Florian Cramer on Sat, 29 Apr 2000 20:35:47 +0200 (CEST)


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[rohrpost] Reinhard Döhl, Vom Computertext zur Netzkunst [2/2]


[Forts.]

   Literatur im Internet
   
   Der Frage nach nach einer Literatur im Internet möchte ich auf
   zweifache Weise nachgehen:
     * Einmal, in dem ich diese Frage im Context der elektronischen
       Medien, elektronischer Aufschreibsysteme (vor allem des Rundfunks)
       stelle. So neu, wie sich das Problem in den zahlreichen, oft
       selbstgenügsamen Diskussionsforen darstellt, sind die Probleme
       nämlich gar nicht. Was bedingt neu ist, ist lediglich die Syntax,
       der sich ein potentieller Netzautor bedienen muß.
     * Danach werde ich auf der Basis von Experimenten, die wir im
       futuristischen leses@lon der Stuttgarter Stadtbücherei
       veranstaltet haben, versuchen, der augenblicklichen Ausstellung
       und den folgenden Vorträgen ein paar, möglicherweise sogar
       kontroverse Stichworte zu geben.
       
   Ich beginne mit der Erinnerung an einen Prospekt Guilleaume
   Apollinaires, der in seinen "Poésies" erklärt hatte:
   
   Die Zeiten der persönlichen Dichtkunst mit ihren relativen
   Taschenspielereien und zufälligen Verdrehungen sind vorüber. Nehmen
   wir den unzerstörbaren Faden der unpersönlichen Dichtkunst wieder auf,
   
   und in "L'Esprit nouveau et les Poètes" aus dem Jahre 1918 die
   Prognose wagte:
   
   Es wäre sonderbar gewesen, wenn die Dichter in einer Zeit, da die
   Volkskunst schlechthin das Kino, ein Bilderbuch ist, nicht versucht
   hätten, für die nachdenklicheren und feineren Geister, die sich
   keineswegs mit den groben Vorstellungen der Filmproduzenten zufrieden
   geben, Bilder zu komponieren. Jene Vorstellungen werden sich
   verfeinern, und schon kann man den Tag voraussehen, an dem die
   Dichter, da Phonograph und Kino die einzigen gebräuchlichen
   Ausdrucksformen geworden sind, eine bislang unbekannte Freiheit
   genießen werden. Man wundere sich daher nicht, wenn sie sich, mit den
   einzigen Mitteln, über die sie noch verfügen, auf diese neue Kunst
   vorzubereiten versuchen, die viel umfassender ist als die einfache
   Kunst der Wörter und bei der sie als Dirigenten eines Orchesters von
   unerhörter Spannweite die ganze Welt, ihre Geräusche und
   Erscheinungsformen, das Denken und die Sprache des Menschen, den
   Gesang, den Tanz, alle Künste und alle Künstlichkeiten und mehr
   Spiegelungen, als die Fee Morgana auf dem Berge Dschebel
   hervorzuzaubern wußte, zu ihrer Verfügung haben werden, um das
   sichtbare und hörbare Buch der Zukunft zu erschaffen.
   
   Diesen Prospekt Guilleaume ergänze ich mit einem Zitat aus der
   "Topographie der Typographie", einem Manifest El Lissitzkys aus dem
   Jahre 1923, dem Jahr, in dem in Berlin auch die Geschichte des
   Rundfunks beginnt:
   7. Das neue Buch fordert den neuen Schrift-Steller. Tintenfaß und
       Gänsekiel sind tot.
       8. Das gedruckte Buch überwindet Raum und Zeit. Der gedruckte
       Bogen, die Unendlichkeit der Bücher, muß überwunden werden. DIE
       ELEKTRO-BIBLIOTHEK.
       
   Apollinaires Forderung einer unpersönlichen Poesie, sein Prospekt
   eines infolge der neuen Medien cinéma und phonographe zu schaffenden
   sichtbaren und hörbaren Buches der Zukunft , El Lissitzkys
   "Elektrobibliothek" formulieren zentrale ästhetische Vorgaben für die
   Künste des 20. Jahrhunderts, die sich durch eine Tendenz zum Dialog
   der Künstler und Künste untereinander, zu einer dialogischen Kunst
   auch mit dem Leser auszeichnen.
   
   Innerhalb dieser Künste gehören das Internet und seine
   Schreibmaschine, der Computer zu den elektronischen Medien, also zu
   Film, Funk und Fernsehen, die sie, der Hypothese nach, eines Tages
   synthetisieren werden. Wobei das Internet das einzige elektronische
   Medium ist, das ausschließlich auf Schrift basiert. Seiner
   Medienvielfalt (Bild, Text, Ton) liegen stets alphanumerische Codes
   und schriftliche Programme zugrunde. Auch Bild oder Ton werden also
   und sind im Computer als Textcode gespeichert, werden im Netz als
   Textcode verschickt. Das wäre also bei der Frage nach einer
   Netzliteratur mitzubedenken
   
   Alle vier Medien - Film, Funk, Fernsehen und Computer/Internet -
   zeichnen sich dadurch aus,
     * daß sie bei Entstehung und endgültiger Präsentation des Textes
       einer technischen Apparatur bedürfen
     * daß der Autortext eine zusätzliche (technische) Syntax verlangt
       und
     * daß der Autor beim Zustandekommen eines Textes (dies im weitesten
       Sinne) der Mitwirkung bedarf: des Regisseurs (Dirigenten) und
       Technikers oder Operateurs, konkret des Kameramanns, des Mannes am
       Mischpult etc. Diese können dabei die ursprünglichen
       Autorintentionen durchaus verfehlen. Was Autoren wiederholt
       veranlaßt hat, diese Mitarbeiterfunktionen wenigstens zum Teil
       selbst zu übernehmen.
       
   Wenn ich als Autor, referierte zum Beispiel Paul Pörtner 1968, von der
   Literatur herkommend, mich dem Hörspiel zuwende, habe ich es nicht nur
   mit einem Medium zu tun, das Literatur vermitteln kann, sondern mit
   einer Produktionsmöglichkeit von akustisch-poetischen Spielen. Ich
   vertausche den Schreibtisch des Autors mit dem Sitz am Mischpult des
   Toningenieurs, meine neue Syntax ist der Schnitt, meine Aufzeichnung
   wird über Mikrophone, Aufnahmegeräte, Steuerungen, Filter auf Band
   vorgenommen, die Montage macht aus vielen hundert Partikeln das
   Spielwerk.
   
   Meine These lautet nun: Auch der Netzautor holt sich Kompetenzen
   zurück, bündelt sie als Programmierer, Operateur, Dirigent, der seinen
   Text verwaltet, und unterscheidet sich schon dadurch vom
   traditionellen Printautor, der lediglich ein abgeschlossenes
   Manuskript, vom Film- oder Hörspielautor, der - wenn er nicht nur die
   Vorlage lieferte - ein Drehbuch abzuliefern hatte.
   
   Und noch einmal anders und zugleich als These für die Ausstellung
   "Computer / Literatur / Internet" und ihr begleitendes
   Vortragsprogramm zugespitzt: die technische Apparatur, die
   Rechenmaschine ist das Medium, an dem sich der Netzautor und der
   Internetnutzer treffen und deren Bedingungen sie zu berücksichtigen
   haben.
   
   Damit komme ich auf der Basis von Experimenten, die Johannes Auer und
   ich im futuristischen leses@lon der Stuttgarter Stadtbücherei gemacht
   haben, zur Frage einer "Literatur im Internet" und unterscheide
   zunächst zwischen Netztexten, für das Netz geeigneten Texten und
   Texten im Netz.
   
   Texte im Netz
   
   Natürlich kann ich heute Texte typographisch mehr oder weniger
   geglückt über den PC  ins Netz stellen. Dann verwende ich, wie viele
   Internetnutzer, PC und Netz reproduktiv als
   Vervielfältigungsmöglichkeit und bilde mir möglicherweise sogar noch
   ein, nun weltweit wahrgenommen zu werden.
   
   Bei diesen Texten trennt - negativ - der direkte Zugang des Autors zum
   Netz nicht mehr die Spreu vom Weizen , läßt aber andererseits -
   positiv und unambitioniert - auch Texte zu, die dem Sachunverstand der
   Lektorate zum Opfer fallen könnten. Ich möchte diese Texte als Texte
   im Netz bezeichnen und sie den traditionellen Privatdrucken
   vergleichen. Daß es für diese Art elektronischer Veröffentlichung ein
   Bedürfnis gibt, wäre vielleicht daran abzulesen, daß auf Gedichte im
   Netz inzwischen häufiger zugegriffen wird als Gedichtbände gekauft
   oder ausgeliehen werden.
   
   Für das Netz geeignete Texte
   
   Von diesen im Netz lediglich veröffentlichten Texten möchte ich Texte
   unterscheiden, die nicht für das Netz geschrieben aber für eine
   Realisierung im Netz geeignet sind, z.B. die visuellen und akustischen
   Textexperimente nicht nur der konkreten Poesie, wie wir sie
   insbesondere in den 50er und 60er Jahren praktisch und theoretisch
   auch in Stuttgart erprobt haben. Sie lassen sich nach Johannes Auers
   und meinen Verständnis nicht nur im neuen Medium fortführen, sondern
   scheinen sogar - als Beispiel nenne ich die Permutation wie jede Art
   von Textaleatorik - für diese Realisierungsmöglichkeit geradezu
   prädestiniert, ob nun als reine Hypertextstruktur, als animiertes GIF,
   als Java-Applet oder Skript, die Möglichkeiten sind hier bei weitem
   noch nicht ausgeschöpft, neue (technische) Möglichkeiten werden
   hinzukommen. [Auer].
   
   Inzwischen haben wir, um unsere These zu überprüfen, daß diese
   früheren Experimente, Strukturen und Traditionen die ästhetischen
   Spielmöglichkeiten des Internets - Hypertext, animierter Bild- und
   Hypertext, programmierter Text - bereits antizipieren, einzelne Texte
   dieser Art zu den Spielregeln, d.h. technischen Bedingungen des
   Internets eingegeben: als permutationellen Text den "Tod eines Fauns"
   (1991 / 1997), als konkrete Texte Teile aus "Das Buch Gertrud"
   (1965/66 / 1996), als visuelle Texte im Rahmen des "Tango"-Projekts
   von Martina Kieninger den "Pietistentango" und "Kill the Poem" (1998)
   und als aleatorischen Text "makkaronisch für niedlich" (1997).
   
   Nicht in der Stuttgarter Tradition steht "Günters genialer
   Gedicht-Generator" "Poetron", der aus Vorgaben Gedichte erzeugt und
   sogar die Qualität der Vorgaben kommentiert. Als Vorgaben verlangt
   "Poetron" Substantive, Verben und Adjektive. Ich habe eingegeben die
   Substantive Gipfeln Ruh Gipfeln Hauch Vöglein Walde und die Verben ist
   spürest schweigen warte ruhest, jeweils in ihrer flektierten Form.
   Adjektive enthält "Wanderers Nachtlied" nicht. Diese Eingabe
   kommentierte bzw. verdichtete "Poetron" wie folgt:
     * Kommentar: gipfeln wipfeln ist. Hm, das ist aber eine komplizierte
       Vorgabe! Na meinetwegen.
     * Text: Istde Wipfeln // Wipfeln ist euch erregt / Erregt und rein /
       Oh Wipfeln / Ihr ist nicht den Hahn / Doch ist euch das Krahn /
       Ihr Wipfeln, ihr Reinen.
     * Kommentar: Eine bessere Vorgabe waere natuerlich noch schoener
       gewesen.
     * Text: istde blubbernde Wipfeln // Die Wipfeln, jene wie es nun
       sei, / Sie ist ach so banal! / Sie blubbern! / Fuerwahr! / Oh
       Qualen der Hoelle! / Wipfeln! // Istde Wipfeln forever.
       
   Ich habe dieses Experiment gemacht, weil mich die Leistung des
   Gedicht-Generators im Vergleich interessierte, im Vergleich nämlich zu
   jenem nun wirklich genialen Neuen Hörspiel George Perecs, das der
   computererprobte Dokumentarist am Institut für Neurophysiologie in
   Paris und Mitglied jener als Oulipo vielzitierten (aber wohl weniger
   bekannten) "Ouvroir de littérature potentielle" als Auftragsarbeit für
   den Saarländischen Rundfunk schrieb.
   
   "La machine" simuliert die Arbeitsweise eines Computers, der die
   Aufgabe hat, "Wanderers Nachtlied" systematisch zu analysieren und
   aufzugliedern. Was hier im Spiel funktioniert bis hin zum Versagen des
   Computers, als er aufgefordert wird, den Goethetext zu verbessern,
   kann "Günters genialer Gedicht-Generator" nicht leisten, ja er bleibt
   mit seinen Hervorbringungen auch zurück hinter Autortexten in der
   Tradition des Wörterzuwurfs, für die ich - ebenfalls aus der
   Hörspielgeschichte - ein praktisch unbekanntes Experiment nenne, mit
   dem Walter Benjamin am 3. Januar 1932 im Frankfurter Sender versuchte,
   den Hörer ins Rundfunkprogramm, den Kommunikationsprozeß einzubinden.
   
   Wie schon im Kinderhörspiel "Radau um Kasperl", in dem Benjamin mit
   den Echospielen an das barocke Echogedicht anschloß, griff er für die
   "Funkspiele" auf Harsdörfferer "Wörterzuwurf" zurück. Leider hat sich
   von diesen mit Hörern für Hörer improvisierten "Funkspielen" kein
   Tondokument erhalten, doch läßt sich durch Vorankündigung und Kritik
   ein ungefähres Bild machen. Angekündigt wurde dies "Funkspiele" in der
   Südwestdeutschen Rundfunk-Zeitung:
   
   Eine Art von literarischem Gesellschaftsspiel vergangener und
   musischerer Zeiten und gleichzeitig, fein verborgen, ein nicht
   unnützes psychologisches und pädagogisches Experiment bringt am
   Sonntagabend eine Veranstaltung, die unter dem Titel 'Funkspiele' von
   Dr. Walter Benjamin geleitet wird.
   Einem Kind, einer Frau, einem Dichter, einem Journalisten, einem
   Kaufmann als Menschentypen, die beliebig erweitert und ersetzt werden
   könnten, werden eine Reihe von unzusammenhängenden Stichworten vor dem
   Mikrophon vorgetragen. Sie haben zugleich mit dem Veranstalter die
   Aufgabe zu lösen, diese Wörter in eine kurze, zusammenhängend geformte
   Geschichte zu übersetzen.
   
   Die Hörer der Sendung waren aufgefordert, die Leistungen der
   Mitspieler nach Punkten zu bewerten, aber auch, sich selbst vom Spiel
   zum Spiel anregen zu lassen. Wissen wir auch über die konkreten
   Ergebnisse der "Funkspiele" selbst nichts Genaues, die
   Hörerzuschriften lassen indirekt durchaus Schlüsse zu. So lauteten zum
   Beispiel zwei Resultate des Wörterzuwurfs Kiefer, Ball, Strauß, Kamm,
   Bauer, Atlas:
   
     Unter der Kiefer
     Mit zitterndem Kiefer,
     In rosa Atlas
     Blättert Gretchen im Atlas,
     Eilt dann zum Ball,
     Da kommt von Schnee ein Ball:
     'Oh weh, mein Strauß,
     Das gibt 'nen Strauß!'
     Sie droht mit dem Kamm,
     Hoch schwillt ihr der Kamm:
     'Wärst du in 'nem Bauer,
     Du nichtsnutziger Bauer!'
     
     Unter der Kiefer lag ein aufgeschlagener Atlas, daneben ein Ball
     und ein Blumenstrauß, noch nicht zusammengebunden. Ein Beweis, daß
     Vater, Mutter und Kind aufgestört worden waren, als vom Kamm des
     Gebirges der Bauer um Hilfe rief.
     
   Ich erspare Ihnen, Walter Benjamin und mir, was "Günters genialer
   Gedicht-Generator" aus dem "Wörterzuwurf" Benjamins gemacht hat.
   Walter Benjamin hat jedenfalls sein Experiment  nicht mehr wiederholen
   können. So blieb es bei einem Ansatz, aus dem sich in der Praxis
   sicher manches hätte entwickeln lassen. Beim
   
   Netztext
   
   tut sich das Internet heute leichter, erstens weil es zweikanalig ist,
   zweitens, weil seine Bedingungen, als deren wichtigste ich den Link
   nenne,  jeden Text contextuieren, also von einem Text zu einem anderen
   Text Verbindungen herstellen können. Und hier beginnen auch die
   Möglichkeiten des Internets und seiner Schreibmachine produktiv zu
   werden, entsteht eine noch einfache Form eines Netztextes, die in dem
   Maße komplexer wird, in dem für den freilich gesteuerten Leser die
   Auswahl möglicher Verbindungen zunimmt oder ihm - durch
   Zufallsgeneratoren - eine ständig sich neu generierende, instabile
   Welt aus Texten zur Verfügung gestellt wird.
   
   Solche Hypertexte ohne Bild, Ton, Animationen etc. im Sinne der von
   Michael Joyce und anderen entwickelten Hyperfiction zeichnen sich
   durch eine häufig recht komplexe, in der Regel nicht-lineare Struktur
   aus und stellen inzwischen eine etablierte Kunstform des Internets
   dar, zu der allerdings zweierlei anzumerken wäre.
     * Erstens im Sinne von Bernd Wingert eine
       Aufmerksamkeitsverschiebung des Lesers vom Text zum Sprung, mit
       den Worten Johannes Auers die Gefahr einer hypertextuellen
       Zapp-Mentalität, die Wingert zurecht als die zentrifugalen Kräfte
       bei der Hypertext-Lektüre charakterisiert.
     * Anzumerken wäre zweitens eine Diskrepanz von Theorie und Praxis,
       weil sich die theoretischen Ansprüche an diese neue Schreibform
       wie Aufhebung von Linearität, Einbeziehung des Rezipienten (der
       Text entsteht bei jedem Lesen je neu) [...] ästhetisch schnell
       erschöpfen, wenn Hypertextstrukturen dem traditionellen Erzählen
       verpflichtet bleiben. [Auer]
       
   Multimediale skriptgesteuerte Netzwerke mit gleichen oder
   aussagebestimmt wechselnden Anteilen an Text, Bild, Ton, Animation -
   also ein multimediales Gesamtkunstwerk ist bei den noch bestehenden
   technischen Beschränktheiten des Netzes und seiner Schreibmaschine
   Utopie, allenfalls in Ansätzen vorhanden, für die Zukunft allerdings
   vorstellbar in Richtung einer Medienkunst, auf die ich am Schluß noch
   einmal zu sprechen kommen werde.
   
   Interaktivität
   
   Es liegt im Willen des im Internet veröffentlichenden Autors, wie weit
   er dem Leser bei der Lektüre freie Hand geben will, was für mich die
   Frage nach der vielbeschworenen Interaktivität, die ich lieber Dialog
   nennen würde, einschließt. Ich gebe vier Stuttgarter Beispiele:
   
   Das "Poet's corner'le" als eine offene und variable Anthologie,
     * offen, weil die Texte ständig um neue ergänzt und gegebenenfalls
       vernetzt werden können
     * variabel, weil die eingegebenen Texte jederzeit auf Wunsch der
       Autoren, der Leser oder der Herausgeber ausgetauscht werden können
       und sollen
     * interaktiv, weil ein Dialog zwischen Leser und Text stattfindet.
       
   Frieder Rusmanns "Fabrikverkauf [art-wear] [walking exhibition]"
     * in dem / für die die Affirmation von "community" und "e-commerce"
       subversiv zum Anlaß einer vom Nutzer selbst zu gestaltenden
       Kunstperformance, der ["walking exhibition"] genommen wird. Es
       versteht sich von selbst, daß die Teilnahmeberechtigung dazu
       zuerst durch den online Kauf eines T-Shirts, das Rusmann als ["art
       wear"] bezeichnet, teuer erkauft werden muß. Was gleichzeitig,
       freilich ironisch, das vieldiskutierte Fast-Kultbuch "Die Welt als
       T-Shirt" von Beat Wyss mit ins Spiel bringt.
       
   Die "Kettenmailsausderbadewanne" als ein Textunternehmen zu
   e-mail-Bedingungen:
     * In ihnen findet der Dialog zwischen einem Ausgangstext und einem
       Leser/Autor statt, der mit seinem Text auf die Vorlage reagiert
       und seine Version einem weiteren Leser/Autor zur Reaktion und
       Redaktion überläßt der undsoweiter. Wobei es sicher richtig ist,
       hier an den Briefroman und seine Spielformen zurückzudenken, in
       deren Tradition sich diese Kettenmails auch lesen ließen, wie
       überhaupt das Netz die Chance einer neuen Briefkultur böte, die
       sich freilich bisher - und nicht nur in den Diskussionsforen -
       eher als eine Briefunkultur darstellt.
       
   Ich muß einschieben, daß mich bei vielen Hervorbringungen im Internet
   ein Mißverhältnis von Text und Präsentation irritiert, worin ich eine
   Neuauflage der sattsam bekannten FormInhaltDiskrepanz sehe. Links etwa
   bei Hypertexten haben auf der Bedeutungsebene oft nichts mit dem Text,
   von dem sie ausgehen, und dem Text, den sie aufrufen, zu tun, sondern
   scheinen nach der Regel link dich, oder ich freß dich gesetzt. Bei den
   auf Autordialog abgestellten "KettenmailsausderBadewanne" ist diese
   Gefahr durch die schlichte und ehrliche e-mail-Struktur, die fast ohne
   Links auskommt, vermieden worden.
   
   Desgleichen bei unserem die Tradition des japanischen Kettengedichts,
   des Renga / Renku / Renshi aufgreifenden "Poemchess" durch ein den
   Autoren vorgegebenes thematisches Raster.
     * Das "Poemchess" ist diologisch und international (Schwäbisch,
       Deutsch, Französisch, Tschechisch, Russisch, Japanisch, Türkisch
       und Englisch).
     * Zwischen den Dialogen seiner Autoren stellt der
       LeserAlsSchachspieler mit seinen den Regeln entsprechenden Zügen
       weitere mehrsprachige Dialoge und damit seinen multilingualen Text
       her.
     * Daß ergibt praktisch zwei sich überschneidende Dialoge,
       
   - einen ersten Autordialog, der das Grundtextgerüst des Schachspiels
       erst hergestellt hat und der sich aus 8 Kettengedichten
       zusammensetzt,
       - und einen zweiten zwischen diesem Grundtext und dem Leser, der
       variabel nach den Regeln des Spiels sich seine Texte herausliest.
       
     * Eine weitere Spielmöglichkeit, auf dem virtuellen Spielfeld
       berühmte Schachpartien nachzustellen und Text werden zu lassen,
       haben wir erst ansatzweise erprobt.
     * Daß dieses Unternehmen Marcel Duchamp gewidmet ist, versteht sich
       beinahe von selbst.
       
   Wichtig für diese Stuttgarter Projekte ist dabei der bewußte Verzicht
   auf technischen Overkill zu Gunsten, um dies noch einmal zu betonen,
   einer präzisen Reflexion auf die grundlegenden Möglichkeiten von
   Computer und Netz.
     * Beim "Poet's corner'le", indem es Texte im Netz zu einer offenen,
       variablen Anthologie versammelt, die nur im Netz so möglich ist.
     * Bei Rusmanns "Fabrikverkauf", indem er die sozialen und
       wirtschaftlichen Strukturen und Konventionen des Netzes
       thematisiert und achtersinnig im Narzißmus des Publikums
       begründet.
     * Bei den "Kettenmailsausderbadewanne", indem sie mit der
       Kommunikationsform der e-mail und der Computersyntax copy, cut und
       paste spielen.
     * Und beim "Poemchess" schließlich, indem es, freilich nicht
       narrativ, mit Hyperlinks arbeitet, die als Schachspiel
       visualisiert sind.
       
   Auch sind das "Poet's corner'le", die "KettenmailsausderBadewanne" und
   das "Poemchess" überwiegend nicht von Programmierern gemacht, sondern
   von (Print)Autoren ins Netz geschrieben. Keiner von ihnen, obwohl
   einige von ihnen der Programmiersprache ALGOL ansatzweise mächtig
   sind, würde sich für einen Algorithmus, einen nach einem bestimmten
   Schema ablaufenden Rechenvorgang halten. Ich polemisiere hier ein
   wenig gegen die ernsthaft vorgetragene Annahme des Autors als
   Algorithmus. Wieweit diese Autoren des "Poemchess" und anderer hier
   nicht genannter Stuttgarter Internetprojekte über ein Fasziniertsein
   von Verflechtung und Netzwerk hinaus in letzter Konsequenz verstanden
   haben, wie man das Spiel spielt und rezipiert, wäre natürlich zu
   fragen.
   
   Da geht die gebürtige Stuttgarterin Susanne Berkenheger nicht erst bei
   ihrem Experiment "Hilfe" einen Schritt weiter und davon aus, dass im
   internet jeder lesevorgang seine spuren hinterlaesst. im gegensatz zu
   fernsehen, print, radio etc., fliessen die informationen im internet
   *immer* in zwei richtungen. dadurch hat fiction im internet auch eine
   naehe zu direkten darstellungsarten wie theater. zumindest koennte sie
   das haben, wenn die spuren denn gelesen werden, vom programm. das
   heisst, der internetautor muss das natuerlich vorsehen.
   jedenfalls mit dieser leserspur (rezeptionsspur), die das - wie gesagt
   meiner meinung nach das alles entscheidende novum des im internet
   moeglichen ausmacht - sollte internetliteratur arbeiten, auf sie
   reagieren, beziehungsweise eine art maschine sein, die darauf
   reagiert.
   
   Die(se) Idee, einen Dialog zu inszenieren, spukte nun freilich schon
   in den Köpfen von Hörspieltheoretikern herum. Und die in der Regel
   kommerziell reproduktive, künstlerisch aber auch produktive
   Nutzungsmöglichkeit der neuen Medien ist ein altes Problem, für dessen
   Skizze ich noch einmal in die 20er Jahre zurückblicken muß.
   
   Die ersten Programme des Radios hatte Bertolt Brecht in einer
   undatierten Notiz - "Radio - eine vorsintflutliche Erfindung?" - als
   kolossalen Triumph der Technik ironisiert, der es ermögliche, nunmehr
   einen Wiener Walzer und ein Küchenrezept endlich der ganzen Welt
   zugänglich machen zu können. Solle die Erfindung wirklich Sinn haben,
   müsse das Radio produktiv gemacht werden.
     * Einmal durch das Entwickeln einer Literatur ausschließlich zu den
       Bedingungen des neuen Mediums, des Hörspiels.
       
   Dieser erste Schritt eines solchen Produktivmachens ist, wie die
   Geschichte des Hörspiels nachdrücklich belegt, durchaus geglückt, wenn
   auch offensichtlich das Hörspiel nicht ganz bei der Stange bleiben
   will, wie erst im letzten Jahr wieder die Woche des Hörspiels in
   Berlin bewies.
     * Zweitens sei das Radio produktiv zu machen durch seine Verwandlung
       aus einem Distributionsapparat, der lediglich zuteile, in einen
       Kommunikationsapparat, der den Zuhörer nicht nur hören, sondern
       auch sprechen lasse, ihn nicht isoliere, sondern in Beziehung
       setze.
       
   Dieser zweite Schritt wollte allerdings, trotz immer wieder
   ansetzender Versuche der Höreraktivierung - wobei für die 20er Jahre
   neben Brecht vor allem Walter Benjamin, für die 60er/70er Jahren unter
   anderem die Experimente mit "Hörerspielen" zu nennen wären -
   
   Dieser zweite Schritt des Produktivmachens wollte dagegen nicht recht
   gelingen. Hier blieben der Rundfunk [wie später das Fernsehen in immer
   niveauloserer Form], ist heute auch das Internet der von der Werbung
   gerne genutzte Distributionsapparat.
   
   Die Lösung kam von einer anderen Seite und markiert zugleich die
   Anfänge des Internets (noch ohne Computer und Netz). Kurz nach dem
   Ende des 2. Weltkriegs stellte [nämlich] der Ingenieur Vannevar Bush,
   zu jener Zeit wissenschaftlicher Berater des US-amerikanischen
   Präsidenten Roosevelt, den Entwurf für eine Maschine vor. Diese
   Maschine, MEMEX (MEM[ory]-EX[tender]) genannt, von der Größe eines
   Schreibtisches, sollte alle Schriftdokumente auf der Basis eines
   Microfiche-Systems der Menschheit griffbereit halten. Und jeder
   Lesende sollte die Dokumente miteinander verknüpfen und weitere
   Informationen hinzufügen können. Der so gemeinsam gewobene "Welt-Text"
   sollte alles Wissen verfüg- und handhabbar machen.
   
   Was Vannevar Bush und Bertolt Brecht nach dem jeweiligen state of the
   art fordern, ist letztlich der Übergang von der passiven Mediennutzung
   zur interaktiven Autorschaft. Und genau diese Möglichkeit bietet zum
   ersten Mal in der Mediengeschichte das Internet. In cyberspace,
   zitiere ich das geflügelte Wort Benjamin Whooley's, In cyberspace
   everyone is an author, which means no one is an author: the
   distinction from the reader disappears. Exit author...
   
   Womit auch ich mich von Ihnen verabschiedet haben möchte.
   
   [Museum für Literatur am Oberrhein, Karsruhe, 16.4.2000]
   
-- 
Florian Cramer, PGP public key ID 6440BA05
<http://userpage.fu-berlin.de/~cantsin/index.cgi>
please PGP-encrypt private mail

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