KrtMr on Sat, 29 Apr 2000 21:40:01 +0200 (CEST)


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[rohrpost] Rezension virtueller Raum/Kunst


Vor einiger Zeit wurde auf dieser Liste eine Diskussion um die Archivierung 
virtueller Kunst geführt. Dieser Tage erschien ein Buch, das sich raeumlicher 
Virtualitaet über diverse Epochen und Medien hin annimmt. Ich stelle es hier 
vor.

Verschiedene Erscheinungsformen virtueller Raeume dienen als roter Faden für 
eine kenntnisreiche architekturhistorische und mediengeschichtliche 
Einfuehrung vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Die in ueber 15 Aufsaetzen 
vorgestellten virtuellen Raeume lassen sich unter einem allen gemeinsamen 
dreiteiligen ontologischen Grundmodell zusammenfassen. Es besteht aus einem 
werkimmanenten Raumangebot, dem zeitweisen Dasein des Virtuellen und der 
Interaktion des Betrachters. Seit Wolfgang Kemp wurde die Rolle des 
Betrachters nicht mehr so explizit herausgestellt. Ueberhaupt wird das Zutun 
des Rezipienten für das Funktionieren von Gegenwartskunst immer bedeutsamer. 
Der teilnehmende Betrachter bringt seine Imaginationsfaehigkeit ein, steuert 
Wissen bzw. Assoziationen bei und aktiviert überhaupt erst den verborgen im 
Realraum einbeschriebenen virtuellen Raum. Der Rezipient changiert in der 
Hybriditaet zwischen Realitaet und imaginiertem Schein, legt den Schalter 
zwischen beiden Welten durch Verlagerung seines Bewußtseins binnen 
Millisekunden nach Belieben um und ist Konstrukteur und Zerstoerer zugleich.

Auf diese Weise entstehen die virtuellen Raeume in der Videoinstallation 
"Atlantis" von Sam Taylor Wood, bei der man unwillkuerlich die Einzelbilder 
mental zusammenfuegt und eine Handlung entstehen laeßt. Des weiteren im 
fruehmittelalterlichen Sakralbau Sto. Stefano in Bologna, der dem 
neuzeitlichen Menschen nur als zusammenhangloses Raumkonglomerat erscheint, 
wohingegen der Bau in der Realitaet des mittelalterlichen Menschen ein 
"als-ob-Jerusalem" bezeichnet, das für ihn als virtuelles Abbild, weil im 
Original okkupiert und nicht zugaenglich, in der Abfolge seiner Kirchen den 
Leidensweg Christi stellvertritt. Gleichfalls ist auch das "Zimmer" in Andrej 
Tarkowskijs Film "Stalker" zu nennen, das nie gezeigt wird - und auch nicht 
gezeigt werden muß -, da es als Ort der projizierten Wuensche (!) wichtiger 
als ein realer Raum ist.
Doch auch soziale Belebung kann raeumliche Virtualitaet generieren. So diente 
das "Einweg-Schloß" Vaux-le-Vicomte nur als Kulisse und Eingangstor zum 
Gartenfest Fouquets. Die steinerne Architektur bildet lediglich die Buehne 
für das barocke Gesamtkunstwerk. Zuletzt hatte Norbert Elias auf die reale 
Staffage für die Scharmützel des absolutistischen Gesellschaftslebens 
hingewiesen. Darüber hinaus liefert der Autor mit einem weiteren Beispiel aus 
dieser Gruppe noch wichtige methodische Denkanstöße. Durch den Nachweis der 
virtuellen Qualität in der Raumabfolge im Papstpalast zu Avignon ist in 
Ergaenzung zum bisherigen Forschungsansatz, Raeume nur nach "harten Fakten" 
wie Lage oder Größe zu beschreiben, Wesentliches gewonnen: Es wird deutlich, 
wie das Zeremoniell dort aus bislang unvermittelt nebeneinander bestehenden 
Raumkompartimenten logisch aufeinander bezogene Sinneinheiten geschaffen hat.

Einzig kritisch zu konnotieren ist der verschiedentliche Vergleich des 
virtuellen Raumes in der Villa Tugendhat mit Strukturen im WWW. Ich glaube 
nicht, daß die Verhaeltnisse ohne weiteres uebertragbar sind. So ist es in 
der von Mies van der Rohe geschaffenen Wohnung in der Tat egal, wo man seinen 
Rundgang beginnt, denn alle Standorte innerhalb des Raumes sind 
gleichberechtigt. Die Wohnung kann voellig rhiziomatisch erfahren werden. 
Demgegenueber sollte Netzkunst von der URL der obersten Ebene aus fuer eine 
logische Sinnabfolge erschlossen werden.
Des weiteren kann man beim Gang durch die Villa von ueberall aus festlegen, 
was noch zum Innenraum gehoert und was schon zum Garten. Es wird sich ein 
Gefuehl fuer den Gesamtraum einstellen. Demgegenueber kann man bei der 
Rezeption von Netzkunst nicht bestimmen, wo man sich innerhalb des Werkes 
gerade befindet. Man kann nicht mit Bestimmtheit festlegen, welche Site 
gerade noch zum Werk gehoert und welche schon dem Universum der Milliarden 
anderer Sites zuzurechnen ist. 

Dennoch wird es dem auf solche Weise sensibilisierten Leser leicht selbst 
moeglich sein, die eigene Kreativitaet und Fantasie einzusetzen und weitere 
virtuelle Raeume aufzuspueren, so etwa im Staedtebau oder im Bereich der 
Skulpturen. In einem allgemeinen Sinn wird dazu angehalten, wieder genauer 
hinzusehen und die phaenomenologischen Innovationen der Postmoderne zu 
hinterfragen. Über das Buch hinaus denkt man schnell an die ubiquitaere 
Globalisierung, doch welche ist jeweils gemeint? Diejenige, die sich in den 
Wirtschaftsjournalen abspielt, wo über transkontinentale Zusammenschluesse 
multinationaler Konzerne berichtet wird. Genauso selbstverständlich verwendet 
auch die kulturanthropologische Migrationsforschung den Begriff. Selbst die 
Wissenschaftsgeschichte kennt dank der Informations- und Biotechnologie diese 
Erscheinung. Und so sind auch die Schlagworte von Cyberspace und virtuellem 
Raum bei reflektierter Betrachtung nur alter Wein in neuen Schlaeuchen für 
den gilt, daß alles schon mal dagewesen ist oder wie es auf einer Site des 
Autors heißt: "Nichts ist, wie es scheint …"

Gottfried Kerscher 
Kopfräume -Eine kleine Zeitreise durch virtuelle Räume
Verlag Ludwig, Kiel 2000, 240 S., DM 49,-


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