florian schneider on Thu, 18 May 2000 13:48:05 +0200 (CEST) |
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[rohrpost] osteuropa und pop |
http://www.heise.de/tp/deutsch/inhalt/kino/8159/1.html Unerwartete Begegnungen und eine �berraschende Juryentscheidung pr�gen die 46. internationalen Kurzfilmtage in Oberhausen. "Ameriga" ist ein Film voller Missverst�ndnisse. Im Jahr 1990 wurden die beiden russischen Filmemacher Gleb und Igor Aleinikov zu einer Vortragsreise in die USA eingeladen. Sie reisten kreuz und quer durch ein Land der unbekannten M�glichkeiten und filmten Bilder mit einer 16mm-Kamera: Entspannte Schwarz-Weiss-Aufnahmen, die aus dem Off aber mit monstr�sen Verschw�rungstheorien angereichert werden. So mimen die beiden Br�der in ihren Reisebildern auf einmal Geheimagenten, von denen einer der mysteri�se Botschafter einer au�erirdischen Zivilisation ist. Zehn Jahre sp�ter, Anfang Mai 2000 l�uft der Film in einer remixten und stark gek�rzten Fassung im internationalen Wettbewerb der Kurzfilmtage in Oberhausen. "Ameriga" ist ein faszinierendes, taktisches Experiment: Der Film bl�st, was gemeinhin als transatlantisches Mi�verst�ndnis verstanden wird, zu einem derart ungeheuren Komplott auf, dass die gro�e, alte Auseinandersetzung zwischen Ost und West v�llig l�cherlich erscheint und ungelesen in sich zusammensackt. Osteuropa und Pop waren die beiden gro�en Themen der 90er Jahre und die <http://www.kurzfilmtage.de> 46. internationalen Kurzfilmtage in Oberhausen vom 4. bis zum 9. Mai 2000 widmeten diesen Debatten noch einmal zwei Sonderprogramme: "Pop unlimited" und "Sex, Rock'n'Roll and History", die von Marina Grzinic kuratierte Osteuropa-Retrospektive. Zehn Jahre lang geh�rte die Neugier des Westens auf die unbekannte osteurop�ische Film- und Videoproduktion zum festen Bestandteil bald jeden Festivals, in Oberhausen sollten neue Wege gegangen werden: "Anstelle der bislang einzig g�ltigen und m�glichen Lesart 'der Osten spiegelt sich im Westen' bietet uns dieses Sonderprogramm nun den 'Osten, der den Osten liest', d.h. sich selbst", k�ndigte Grzinic an. Osteuropa sei ein "�berma� an Europa und kein Europa", gezwungen die Position eines "exkrementhaften Restes" anzunehmen. Diese Lesart erm�gliche einen radikalen Bruch mit der vorherrschenden, humanit�ren Blickrichtung eines hochentwickelten Westens auf den traumatischen Osten: "Wir beginnen etwas zu werden, sobald wir absolut nichts mehr gewesen sind, den Nullpunkt durchschritten (erreicht) haben." Zu sehen waren Film- und Videoproduktionen des osteurop�ischen Undergrounds von 1950 bis 2000. Das ausgezeichnete Programm reflektierte die spezifische Bedeutung der Videotechnologie im Sinne einer "De- und Rekonstruktion von Geschichte", subversive Praktiken, welche zugunsten einer "Conceptual Nothingness" das Politische an sich untergraben, sowie taktische Bestimmungen von Kitsch, Groteske und Absurdit�t vor dem Hintergund massenhafter Apathie. W�hrend die Festivalleitung im Osteuropa-Programm auf eine pr�gnante kuratorische Handschrift setzte, bestach das zweite Sonderprogramm "Pop Unlimited" vor allem mit gro�en Namen: Unter vielen anderen kamen Craig Baldwin, Mike Mills, Mark Webber, Ed Guerrero und Bobbito Garcia nach Oberhausen und er�rterten im von Christian H�ller zusammengestellten Programm den aktuellen Stellenwert popkultureller Strategien. "Welche Verschiebungen mu�ten stattgefunden haben, dass Popkultur mittlerweile f�r das gesamte Spektrum an politischen Positionen, von der neurechten Wirtschaftswelt bis zum mikropolitischen Oppositionsfeld, herh�lt?" H�llers Ausgangsfrage konstatiert eine "�berdehnung" von Pop, gefolgt von einer Diffusion des identit�tsstiftenden und politisierenden Potenzials von Pop in verschiedenste soziale Sph�ren und kulturelle Kontexte, die bekannterma�en l�ngst nicht mehr auf dissidente Milieus am Rande des Mainstream beschr�nkt sind. Dem Programm mit einer Vielzahl von Musik-Clips, Werbespots, Kurz- und Experimentalfilmen kann unter solchen Voraussetzungen wenig mehr gelingen als eine Art Bestandsaufnahme. Dass diese frei von jammernden oder kulturpessimistischen Untert�nen erfolgt, war ebenso bemerkenswert wie erfreulich. Aus der Unmenge der pr�sentierten Produktionen ragte programmatisch Mike Mills neuester Film "Architecture of Reassurance" heraus. Ein junges M�dchen ("Alice Cooper") wagt den Ausbruch aus der Eigenheim-Idylle einer s�dkalifornischen Gated Community zu einem Streifzug durch die Vorg�rten und Wohnzimmer der Nachbarh�user. Ein ungeheuerlich subversives Unterfangen in einem sozialen Klima, das das Flanieren zu Fu� sowie das Eindringen in die Privatsph�re wie gr��te anzunehmende Tabubr�che wirken l��t. Was den Film des Designers Mills aber ausmacht, ist ein fast schon erschreckend stilsicherer Umgang mit Kadrage und Filmmusik, der Begrenzung des Bildes und der �berschreitung dieser Grenzen im Off. Im denkbar sch�rfsten Gegensatz zur Strategie des Schmutzigen, die Marina Grzinic im Osteuropa-Programm herauszuarbeiten versuchte, erscheint bei Mills formale Perfektion als Refugium f�r Differenz und guten Geschmack - in Sph�ren jenseits der Narration: Die Aneignung der Codes macht es m�glich, sich kurzfristig �ber das schlechte Soziale zu erheben. Die Kurzfilmtage in Oberhausen sind konzipiert als ein Festival der Begegnung. So ist wahrscheinlich zu verstehen, weshalb Festivalleiter Lars Henrik Gass bei der Schlussveranstaltung ausrufen konnte: "Wir haben endlich das Festival machen k�nnen, das wir immer machen wollten!" Seit Jahren befindet sich das traditionsreiche Filmfest, das kurz nach dem Krieg als "Kulturfilmtage" begann und den "Weg zum Nachbarn" ebnen sollte, in der Krise. Auf die ruhmreichen Tage des Oberhausener Manifestes als Startsignal f�r den deutschen Autorenfilm ("Opas Kino ist tot") folgte erst das Ende des Kurzfilms als unterhaltender oder belehrender Vorfilm, dann die Krise des Kinos beziehungsweise des Filmformats und schlie�lich die Krise der Festivals, die inflation�r wurden und sich gegenseitig �berfl�ssig machten. Seit 1997 fast das Aus der Kurzfilmtage zu drohen schien, versucht das Team unter der Leitung von Gass nun eine "Regeneration", die allem Anschien nach vor allem erst einmal das Publikum betrifft. Zum dritten Mal wurde in diesem Jahr parallel zum deutschen und zum internationalen Wettbewerb der Preis f�r das beste deutsche Musikvideo verliehen und damit eine gewisse Attraktivit�t �ber das klassische Fachbesucher-Klientel hinaus erzielt. Was auch als Bauernf�ngerei mi�verstanden werden kann, scheint aber mit der Zeit eine produktive Konfrontation der �sthetisch ohnehin kaum mehr voneinander zu trennenden Genres Kurz- und Experimentalfilm, Werbespot und Musikvideo hervorzubringen. Die geschickte Einladungspolitik, die die unterschiedlichsten Filme, Filmemacher, Positionen und Konzepte zusammenbrachte, um sie ohne Verlust ihrer Differenz miteinander kommunizieren zu lassen, gipfelte in diesem Jahr in der Zusammensetzung der Jury des internationalen Wettbewerbs: <http://www.documenta.de/documenta/dx/index.htm> Documenta X-Leiterin Catherine David, der britische Pop-Theoretiker Kodwo Eshun ("More brilliant than the Sun"), die US-Experimentalfilmerin Jennifer Reeder, der mauretanische Filmemacher Abderrahmane Sissako und die langj�hrige Leiterin des Moskauer <http://www.cinefantom.org> Cine-Fantom-Festivals und Internet-K�nstlerin Olia Lialina. In erstaunlicher Einm�tigkeit f�llte diese Jury eine von verschiedenen Seiten und in vieler Hinsicht als "unpopul�r" begriffene Entscheidung, die von �berraschender �sthetischer Konsistenz zeugt. Mit dem mit 15.000 Mark dotierten "Gro�en Preis der Stadt Oberhausen" wurde "Strangers" ausgezeichnet, eine 29-min�tige Sozialstudie von Kathrin Resetarits. Ohne die sonst �bliche Stilisierung gelang der �sterreichischen Filmemacherin eine au�ergew�hnlich pr�zise Beobachtung von Sprachlosigkeit und Entfremdung. In der Begr�ndung hei�t es, der Film weise "faszinierende neue Richtungen f�r die zeitgen�ssische Erz�hlung" auf. Das Urteil ist vor allem also als Pl�doyer f�r narrative Strategien und f�r eine Wiederaneignung des Sozialen zu verstehen, und dies d�rfte auch die Entscheidung f�r die beiden anderen Hauptpreise erkl�ren: "Flowergirl", die 19-min�tige Geschichte der australischen Filmerin Cate Shortland behandelt die Erfahrungen von drei japanischen Teenagern, die sich in Sidney eine Wohnung teilen. "Entretanto", der 25-min�tige Film des Portugiesen Miguel Gomes, verfolgt drei Jugendliche, die sich in einer Welt ohne Erwachsene zu einem verliebten Trio zusammengetan haben. Pr�miert wurden somit ausschlie�lich l�ngere Kurzfilme mit einer unpr�tenti�sen, pointenlosen Spielhandlung und damit das Gegenteil, wonach dem Markt im Moment gerade noch gel�sten k�nnte: eine Geste au�erdem gegen jegliches Proporzdenken und f�r eine Neubestimmung des Genres, das mit den wachsenden Bandbreiten im Internet bald vor ganz neuen Herausforderungen und M�glichkeiten stehen d�rfte. Vor dem Hintergrund eines offenen Festivalkonzeptes, das im Begriff ist, die Sinnsuche zu institutionalisieren, sind dann selbst Stimmen zu ertragen, die sich nicht entbl�den, zu bem�ngeln, da� ausgerechnet in diesen Zeiten ein "�sterreichischer" Film ausgezeichnet werde. http://www.kurzfilmtage.de ---------------------------------------------------------- # rohrpost -- deutschsprachige Mailingliste fuer Medien- und Netzkultur # Info: [email protected]; msg: info rohrpost # kommerzielle Verwertung nur mit Erlaubnis der AutorInnen # Entsubskribieren: [email protected], msg: unsubscribe rohrpost # Kontakt: [email protected] -- http://www.mikro.org/rohrpost