Ralf Knüfer on Sat, 10 Jun 2000 15:11:05 +0200 (CEST)


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[rohrpost] Bourdieu in Berlin



Vorträge von Pierre Bourdieu in Berlin an diesem Wochenende:
am Samstag, 10.06.2000 - 19h im Audimax der Humboldt-Uni 
über "Neoliberalismus und neue Formen der sozialen
Herrschaft" und am Sonntag, 11. Juni -12h, in der 
Schaubühne über den "Fünften Stand und das Ende der
Arbeitsgesellschaft". 

Heute im Magazin der Berliner Zeitung schreibt Bourdieu über
--->
"Die Internationale der Intellektuellen
Wissenschaft als Beruf, Politik als Engagement: Plädoyer für
eine neue politische Arbeitsteilung"
http://www.BerlinOnline.de/aktuelles/berliner_zeitung/magazin/.html/10artik050077.html


>Für die Einberufung von Generalständen der sozialen Bewegung
>in Europa
http://www.zeg.org/raison/Charta_2000.htm


>Dieses Manifest, hervorgegangen aus vielen Diskussionen in
den verschiedensten europäischen Ländern während der letzten
Jahre, versteht sich als Versuch, die intellektuellen und
institutionellen Voraussetzungen für eine Sammlungsbewegung
aller kritischen und progressiven Kräfte in Europa ins Leben
zu rufen. Es wird zum 1. Mai in Deutschland, Frankreich,
Spanien, Italien und anderen Ländern Europas, Lateinamerikas
und Asiens veröffentlicht und sollte der Beginn einer großen
gemeinsamen Anstrengung sein, Grundsätze für echte
politische Alternativen zu einer neoliberalen Politik zu
erarbeiten, die sich heute, auch unter
sozialdemokratischen Regierungen, immer weiter durchsetzt,
und vor allem auch die organisatorischen Rahmenbedingungen
für einen gemeinsames Vorgehen gegen diese Politik zu
schaffen. Ein erster Schritt dazu wird der während einer
Reihe von Arbeitstreffen auszuarbeitende Entwurf einer
europäischen Sozialcharta sein, und in den nächsten Monaten
dann die Einberufung einer großen Versammlung aller sozialen
Bewegungen in
Europa. 

Alle, die sich für dieses Vorhaben einsetzen wollen, das
bereits von vielen Vertretern aus den Gewerkschaften und
anderen Organisationen, von Künstlern, Schriftstellern und
Wissenschaftlern unterstützt wird, möchten wir bitten, ihre
Unterschrift, auch mögliche Vorschläge und Bemerkungen, über
die Adresse www.raisons.org weiterzuleiten. Dort stehen
Ihnen weitere Informationen zur Verfügung, unter anderem die
vorläufige Liste der Unterzeichner. 

Pierre Bourdieu 

 

 

>Jene soziale Bewegung, wie sie zumindest in Europa während
der letzten Jahre erkennbar wurde, steht vor einer wichtigen
Entscheidung. Will sie eine feste, anerkannte und Ernst zu
nehmende Größe werden, dann ist es unabdingbar, all die
betroffenen Gruppen, zunächst auf
europäischer Ebene, in einem noch zu gründenden Netzwerk zu
sammeln und miteinander ins Gespräch zu bringen, einem
Netzwerk, das in der Lage wäre, diese
Kräfte zu bündeln, ihre Ziele aufeinander abzustimmen und
schließlich ein gemeinsames Vorgehen zu erarbeiten:
Gewerkschaften, die Bewegung der Arbeitslosen, Obdachlosen
oder Staatenlosen, Frauengruppen, Homosexuelle,
Umweltvereinigungen und viele andere.

Denn diese Bewegungen haben trotz all ihrer Unterschiede,
trotz der manchmal bestehenden Meinungsverschiedenheiten,
zumindest eines gemeinsam: sie verteidigen jene, die heute
von der neoliberalen Politik immer mehr einem ungewissen
Schicksal preisgegeben werden, und greifen gleichzeitig all
die gesellschaftlichen Probleme auf, die diese Politik dabei
zurückgelassen hat. Es sind dies Probleme, die auch und
gerade von den sozialdemokratischen Parteien verharmlost
oder verdrängt werden, von
sozialdemokratischen Regierungen, die sich gegenwärtig vor
allem darum bemühen, die bestehende Wirtschaftsordnung zu
verwalten und hinter einem letzten Rest staatlicher
Handlungsfreiheit verschanzen, und sich dabei immer
bedenkenloser mit den wachsenden gesellschaftlichen
Ungleichheiten, mit allgemeiner Arbeitslosigkeit und der
Prekarisierung ganzer Bevölkerungsgruppen abgefunden haben.
Gerade deshalb brauchen wir eine wirkliche kritische
Gegenmacht, die imstande ist, diese Probleme immer wieder
auf die politische Tagesordnung zu setzen, durch neue,
insbesondere symbolische Formen des Handelns, um immer
wieder, wie es auch in Seattle geschehen ist, die
grundlegendsten Wünsche der Bürger zum Ausdruck bringen.

Diese kritische Gegenmacht gegen die internationalen Mächte
des Marktes muß selbst international sein, und die Europäer
können hier einen Anfang machen. Weil es diese Bewegung mit
konservativen und restaurativen Kräften zu tun hat, Kräften, 
die sich insbesondere mit ihren Versuchen eines Abbaus, 
wenn nicht gar der letztendlichen Zerstörung des 
"Wohlfahrtsstaates" auf eine Wiederherstellung der 
Vergangenheit richten, muß sie eine mächtige, bewegende 
Kraft sein, die erst dann, wie die sozialen Bewegungen 
des neunzehnten Jahrhunderts, Staaten und Regierungen 
drängen könnte und müßte, wirksame Maßnahmen für eine 
Kontrolle der Finanzmärkte zu ergreifen und 
eine gerechtere Verteilung des Reichtums der Nationen, 
in ihnen und zwischen ihnen durchzusetzen. 

Deshalb schlagen wir vor, bis Ende des Jahres 2000
Generalstände der sozialen Bewegungen in Europa
einzuberufen, mit dem Ziel, eine gemeinsame Charta
auszuarbeiten, und Grundlagen für eine internationale
Struktur zu schaffen, die alle möglichen organisatorischen
und intellektuellen Formen des Widerstandes gegen die
neoliberale Politik bündelt, gleichzeitig aber ihre
Unabhängigkeit gegenüber den Parteien und
Regierungen, insbesondere gegenüber den Regierungsparteien
bewahrt.

Diese Generalstände müßten zunächst einen offenen Austausch
über unterschiedliche Vorstellungen und Ziele
gesellschaftlicher Veränderung ermöglichen können, die sich
alle den gegenwärtig beobachtbaren
ökonomischen und sozialen Prozessen (Flexibilisierung,
Prekarisierung, Pauperisierung) entgegenstellen und die
damit einher gehende Politik der "inneren Sicherheit"
bekämpfen, mit der heute fast alle europäischen
Regierungen die Auswirkungen dieser Prozesse einzudämmen
versuchen. Zweitens sollen sie Gelegenheit geben,
dauerhaftere und festere Beziehungen zu knüpfen, die eine
schnelle Mobilisierung aller beteiligten
Gruppen im Hinblick auf gemeinsame oder aufeinander
abgestimmte Aktionen ermöglichen, ohne dabei irgendeine Form
zentralistischen Zwangs einzuführen, und ohne den ungeheuren
Reichtum zu zerstören, den
die einzelnen Gruppen mit ihrer jeweiligen Eigenart und
ihrer unterschiedlichen Geschichte in eine solche Bewegung
einbringen könnten. Drittens schließlich könnten diese
Treffen gemeinsame Ziele für ihre Aktionen auf nationaler
und internationaler Ebene ausarbeiten und abstimmen, die
alle auf die Schaffung einer solidarischeren Gesellschaft
gerichtet sind, deren Grundlage die Anerkennung,
Vereinheitlichung und Erweiterung ihrer sozialen 
Errungenschaften bilden.  

Eine solche Sammlung all jener Kräfte, die in ihrem
tagtäglichen Kampf gegen die verhängnisvollsten Auswirkungen
der neoliberalen Politik ein praktisches Wissen um deren
zerstörerisches Potential und die kreativen Möglichkeiten
des dagegen aufgebrachten Widerstandes erworben haben,
könnte auf diese Weise einen gemeinsamen schöpferischen
Prozess in Gang bringen, und so den vielen Menschen, die
sich in dieser Welt nicht mehr erkennen, eine realistische
Utopie eröffnen, in der sich durchaus manchmal
unterschiedliche und eigenständige, aber dennoch auf
gemeinsame Ziele hinwirkende Bemühungen im Kampf um ein
selbstbestimmtes Leben wiederfinden und verbünden könnten.

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