Heiko Idensen on 6 Feb 2001 22:15:24 -0000


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[rohrpost] Bruce Sterling: Manifest der toten Medien


... als kleine einstimmung fuer die
mikro.lounge #30 'Long Live Dead Media!' mit Bruce Sterling:
Mittwoch, 7. Februar 2001, 20.30 Uhr, WMF Club, Ziegelstr.23

... die deutsche uebersetzung ist dem band *HYPERORGANISMEN* entnommen -
mit herzlichen gruessen vom herausgeber olaf arndt!

Hyperorganismen, 450 pages, book and CD-Rom now available!
Inhaltsverzeichnis:
http://www.bbm-ww.de/book/buch.html
eine besprechung von mir in tp:
http://www.heise.de/tp/deutsch/inhalt/buch/4182/1.html
das vorwort hatte ich schon einmal in rohrpost gepostet:
http://www.nettime.org/rohrpost.w3archive/200011/msg00044.html

don't read it!
feed it!
Dead Media list:
http://www.deadmedia.org/
Dead Media Project working notes
http://www.deadmedia.org/notes/index.html

hei&co

*****

Bruce Sterling
Manifest der toten Medien

Schon mal dar�ber nachgedacht, wieviel B�cher �bers Internet es
heutzutage gibt? Etwa 13.493, oder? Und was ist mit �Multimedia�?
Sagen wir 8.784 zu diesem Punkt, obwohl es noch niemandem gelungen
ist, zu definieren, was �Multimedia� eigentlich ist. CD-ROM - gibt es
�berhaupt noch irgendein vermarktbares Thema, das nicht im riesigen
digitalen Sumpf der CD-ROMs beerdigt wurde? Und was ist mit der
�Datenautobahn� und der �Virtuellen Realit�t�? Jede Zeitschrift auf
diesem Planeten hat vor Bewunderung bebende Vaporware-Geschichten (*1)
�ber diese beiden Konsensus-Halluzinationen auf ihren Titelseiten
gebracht.
Unsere Kultur erlebt eine tiefgreifende Verbreitung einer neuen
Medienspezies. Die zentralisierten, dinosaurischen
Von-einem-zu-vielen-Medien, die im 20. Jahrhundert br�llend durch die
Gegend trampelten, sind unbeholfen in die postmoderne technologische
Umgebung integriert worden. Die neue Medienumgebung ist voll von
schwerf�lligen, z�hnerasselnden digitalen S�ugetieren. Hier sind
�Lynxe� (Luchse), und dort �Gophers� (Schildkr�ten), dazu kommen
fette, boshafte �Webcrawler� (Netzkrauler), die in pleistoz�nischer
�berf�lle auftreten.
Das ist alles gut und sch�n, und es ist gro�artig, da� so viele Leute
sich damit besch�ftigen. Nichts macht mir als professionellem
Garagen-Futuristen mehr Freude, als �ber einen hirnrissigen neuen
Mediummutanten nachzudenken und mich zu fragen, wie dieses quiekende
kleine Monster sich wohl in die Zwischenr�ume zwischen menschlichen
Wesen schl�ngeln wird. Dennoch gibt es immer noch einen Unterschied
zwischen dieser erheiternden Kontemplation des Lebens und dem Tod der
Medien. Wir haben �berhaupt keine Ahnung, was zum Teufel wir uns mit
diesen neuen Medientechnologien antun. Und es gibt nicht einmal einen
brauchbaren Weg, um dieses Thema zu diskutieren. Dennoch m��te irgend
etwas Konstruktives getan werden, was diese Situation betrifft.
Ich pers�nlich kann nicht viel dazu beitragen, da ich in n�chster Zeit
bis unter die Hutkrempe ausgebucht bin. Das Gleiche gilt f�r meinen
guten Freund Richard Kadrey, dem Autor des �Covert Culture
Sourcebook�. Aber Kadrey und ich sind uns dar�ber einig, da� wir in
der vorliegenden kulturellen Konstellation gern eine neue Art von Buch
�ber die Medien sehen w�rden. Ein Medienbuch �ber die toten Medien.
F�r alle Medien, die noch in den Kinderschuhen stecken, sind bereits
Unmengen von aberwitzigen Versprechungen gemacht worden. Was wir
brauchen, ist ein ernstes, nachdenkliches, nicht �berschwengliches und
sogar trauriges Buch, das die Toten ehrt und die geistigen Vorfahren
des heutigen Medienirrsinns wiederbelebt. Ein Buch, das seinen Lesern
inmitten der schwindelerregenden digitalen Revolution eine tiefere,
pal�ontologische Perspektive gibt. Wir brauchen ein Buch �ber das
Scheitern der Medien, �ber das Veralten der Medien, �ber die
Unterdr�ckung durch die Medien, ein Buch, das all die absonderlichen
und entsetzlichen Medienfehler auflistet, die wir gut genug kennen
sollten, um sie heute nicht zu wiederholen, ein Buch �ber Medien, die
im Stacheldraht des technologischen Fortschritts gestorben sind,
Medien, die es nicht geschafft haben, M�rtyrermedien, tote Medien.
�Das Handbuch der toten Medien�. Ein Schlachtfeldf�hrer vom
Naturalisten f�r den Kommunikationspal�ontologen.
Weder Richard Kadrey noch ich selber sind gegenw�rtig in der Lage, ein
solches Handbuch zu schreiben. Dennoch haben wir beide das Gef�hl, da�
unsere Kultur dieses Buch wirklich braucht: diesen ausf�hrlichen,
geistreichen, verst�ndnisvollen, gro�z�gig illustrierten, perfekt
gebundenen, auf s�urefreiem Papier gedruckten Bildband, der
theoretisch schlie�lich von einem einflu�reichen Avantgarde-Verlag des
fr�hen 21. Jahrhunderts herausgebracht werden sollte. Die Art von
Buch, das in siebzehn verschiedenen Abteilungen Ihres �rtlichen
Buchladens auftaucht: Politik, postmoderne Theorie,
Computerwissenschaft, popul�re Mechanik, Designstudien,
Bildbandabteilung, Erinnerungstisch etc.
Es ist ein ziemlich seltenes Ph�nomen, da� ein etabliertes Medium
stirbt. Wenn Medien ihr goldenes Vaporware-Stadium hinter sich haben,
expandieren sie in den ersten Tagen gew�hnlich wie verr�ckt und
versinken dann in einer sch�tzenden Nische, wenn sie von sp�teren und
h�her entwickelten Konkurrenten herausgefordert werden. Das Radio hat
die Zeitungen nicht umgebracht, das Fernsehen hat das Radio oder den
Film nicht umgebracht, Video und Kabel haben die Fernsehsender nicht
umgebracht - sie alle treiben sich herum und suchen nach einer
besseren Anwendung.
Aber einige Medien verschwinden tats�chlich. Zum Beispiel: das
Phenakistoskop. Das Teleharmonium. Edisons Wachszylinder. Das
Stereoptikon. Das Panorama. Elektrische Scheinwerferschauspiele zu
Beginn des 20. Jahrhunderts. Morton Heiligs fr�he virtuelle Realit�t.
Das Telephon Hirmondo. Die verschiedenen Arten der Laterna Magica.
Pneumatische Rohrpostleitungen, die einst den Boden von Chicago
durchl�cherten. War das Antikythera-Ger�t ein Medium? Was ist mit den
Wandzeitungen in Peking zu Beginn der 80er Jahre?
Noch nie von diesen Dingen geh�rt? Gut, genau das ist das Problem.
Kadrey und ich sind nicht allzu eifrige Fans dieses
Untersuchungsfeldes, aber wir beide gehen dennoch davon aus, da� es
Hunderte von toten Medien geben mu�, die wenn �berhaupt nur wenigen
bekannt sind. Es bed�rfte der kombinierten und gro�artigen
wissenschaftlichen Talente von, sagen wir, Carolyn �When Old
Technologies Were New� Marvin und Ricky �Learned Pigs and Fireproof
Women� Jay, um diesem ambitionierten Projekt einigerma�en gerecht zu
werden. Obwohl wir nicht nachgefragt haben, vermuten wir, da� diese
beiden hervorragenden Gelehrten viel flei�iger als Kadrey und ich
sind, die wir letztendlich nur Science-Fiction-Schreiber sind, die
ihre Zeit damit verbringen, chinesische Videos anzusehen, Fanzines zu
lesen und verdrehte Schei�e zu produzieren.
Dennoch, wir haben einen, m�glicherweise entscheidenden Fortschritt
gemacht. Wir haben einen Internetzugang. Wenn wir die gegenw�rtige
Digitale-Medien-Gemeinschaft davon �berzeugen k�nnen, da� Tote Medien
ein wichtiges Projekt ist, dann k�nnen wir wahrscheinlich ein
�ffentlich zug�ngliches Netzarchiv zu diesem Thema zusammenstellen.
Wir wollen mit der Dead Media World Wide Web Page beginnen, deren Site
noch bekanntgegeben wird. Vielleicht wird das alt.dead.media. Dann mu�
ein Dead Media FAQ (Frequent Asked Questions) geschrieben werden. Wir
hoffen betr�chtliche Kr�fte der heutigen Avantgarde-Medien ausnutzen
zu k�nnen, um eine allgemeine public-domain-Homage f�r die
Medienpioniere der Vergangenheit zu schaffen.
Dazu folgender Vorschlag. Kadrey und ich fassen unsere Notizen
zusammen. Wir machen diese Notizen f�r jeden im Netz frei zug�nglich.
Wenn wir gen�gend Platz im Netz bekommen, um Interesse zum Ausdruck zu
bringen und Berichte, Geschichten und Dokumentationen �ber tote Medien
weiterzuleiten, sind wir bereit, die schwere Last der
Herausgeberschaft und Systemverwaltung auf uns zu nehmen, was keine
geringe Aufgabe ist, wenn es zu dieser hoffentlich �freien�
Information kommt.
Wir beide wissen, da� Autoren solche tollen Ideen normalerweise
eifers�chtig f�r sich behalten sollten, aber wir haben das starke
Gef�hl, da� das bei einem Projekt dieser Art nicht der richtige Weg
ist. Ein solches Projekt ist eine geistige Suche und ein Akt von
allgemeinem Interesse f�r die Gemeinschaft. Unser Netzerbe geh�rt
allen Netzteilnehmern. Wenn ihr selber diese Notizen ausbeuten wollt,
um ein �Handbuch der toten Medien� zu schreiben, nun gut, das ist zwar
unsere �Idee� oder unser �geistiges Eigentum�, aber was soll's, wir
sind Cyberpunks, wir schreiben f�r Magazine wie Boing Boing, wir
k�nnen uns in dieser Situation nicht mit solchen Kinkerlitzchen
besch�ftigen. Schreibt das Buch. Benutzt unsere Notizen und die von
anderen. Wir werden euch nicht verklagen. Versprochen. Macht es.
Schlagt euch selbst K.O.
Meine Damen und Herren, ich m�chte noch weiter gehen. Um das
grundlegend kommerzielle Potential dieses Angriffs auf die Windm�hle
unter Beweis zu stellen, biete ich pers�nlich eine Druckfrische
F�nfzig-Dollar-Note f�r den ersten Typen oder die erste Frau oder die
Kombination aus beidem, der/die das �Handbuch der toten Medien�
schreibt und ver�ffentlicht. Ihr k�nnt sogar den Titel nehmen, wenn
ihr ihn haben wollt. Aber denkt daran, Kadrey und ich (oder eine
Kombination von beiden) behalten uns das Recht vor, ein eigenes Buch
zum selben Thema zu machen, wenn ihr es nicht schafft wegzukratzen,
was uns juckt. Die Aussicht auf einen �Konkurrenzkampf� schreckt uns
in keiner Weise. Und das war noch nie so. Wenn es einen Raum f�r
19.785 �Internetf�hrer� gibt, dann mu� es auch Raum f�r einige
n�tzliche B�nde �ber tote Medien geben.
Stellt euch das Ganze folgenderma�en vor. Wie lange wird es noch
dauern, bis das hochgepriesene World-Wide-Web-Interface selber ein
totes Medium sein wird? Und was wird aus den Milliarden Gedanken,
W�rtern, Bildern und Ausdrucksformen werden, die ins Internet gegossen
wurden? Werden sie nicht verschwinden wie der scheu�lichfarbene Rauch
von einem brennenden Haufen alter Victorola-Schallplatten vom
Flohmarkt? Erf�llt euch als Netzbewohner diese bittere Vorstellung
nicht mit abgrundtiefem Bedauern, mit einer geradezu postmodernen Reue
und einem fast aus der japanischen Heian-Epoche stammenden Gef�hl f�r
das Pathos verlorener Dinge? Und wenn nicht, warum nicht? Es m��te
eigentlich so sein.
Wenn man schon von toten Medien spricht und sich nicht ums Monopol
schert - was ist mit den kleinen Gedichten, die die Hofdame Murasaki
schrieb und in gespaltene St�cke steckte? Damit sie nach einem
n�chtlichen erotischen Stelldichein von einem Fu�-Boten zu dem vom
Bambus umgebenen Anwesen eines gl�cklichen Bewunderers getragen werden
konnten? Das war ein Medium. Und dieses Medium war einst sehr
lebendig, eine St�tze einer der am kunstvollsten entwickelten Kulturen
auf der ganzen Welt. Und ist es nicht tot? Und was haben wir heute als
funktionales �quivalent f�r die gespaltenen St�cke von Murasaki
Shikibu, einer der ersten Romanautorinnen der Welt? Wenn wir ihre
geschichtlich weit zur�ckliegende Erfahrung nicht zur Kenntnis nehmen,
wie sollen wir dann aus unserer eigenen lernen?
H�rt das Folgende, ihr Digitalhippies. Hier spricht Jacqueline Goddard
im Januar 1995. Jacqueline wurde 1911 geboren, und sie war eine der
gro�en Ikonen der Boh�me-Weiblichkeit des 20. Jahrhunderts. Man Ray
photographierte sie 1930 in Paris, und wenn wir es hinkriegen, ohne
vom Juliet-Man-Ray-Trust verklagt zu werden, werden wir eines Tages
das haut-dich-um-und- verschl�gt-dir-den-Atem-Bild von Jacqueline, das
Bruder Man Ray aufgenommen hat, auf unsere Vaporware-Website setzen.
Sie k�nnte die Schutzheilige unserer Bem�hungen sein.
Jacqueline erz�hlt: �Nachdem sie den ganzen Tag gearbeitet hatten,
wollten die K�nstler aus den Studios raus, weg von dem, was sie gerade
schufen. Sie trafen sich in Caf�s, um �ber dieses oder jenes zu reden,
um �ber ihre Arbeit, �ber Politik und Philosophie zu diskutieren...
Wir gingen in die Bar vom La Coupole. Bob, der Barmann, war ein
verdammt h�bscher Kerl... Da es damals kein Telephon gab, benutzte ihn
jeder, um Nachrichten zu hinterlassen. Im D�me hatten wir auch eine
kleine Stelle hinter der T�r, um Nachrichten zu hinterlassen. Das
Telephon war der Tod von Montparnasse.�
�Das Telephon war der Tod von Montparnasse.� Denkt mal eine Weile �ber
diese Aussage aus der Zeit des Surrealismus nach, ihr
Caf�haus-Moderniten. Jacqueline hatte vielleicht keine Ahnung von
TCP/IP, aber sie war dort und hat das gemacht. Seitdem ich diese
Bemerkung gelesen hatte, mu�te ich immer wieder �ber sie nachdenken.
F�r wen hat die Glocke des Telephons geschlagen? Sie schl�gt f�r mich
und dich - fr�her oder sp�ter.

K�nnt ihr uns helfen? Wir glauben schon, ihr k�nnt und ihr solltet.

Dead Media list:
http://www.deadmedia.org/

MZTV Television Museum
Austrailian Dead Media Museum
The Virtual Museum Of Computing
Science Museum, London
Chronology of Digital Computing Machines
The Swedish Telemuseum
The Early Typewriter Collection
The Media History Project
The Typewriter Collection
The Obsolete Computer Museum

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(*1)
Vaporware: �berschwenglich angek�ndigte Software-Produkte, die erst
viel sp�ter auf den Markt kommen, und oft auch gar nicht. (A.d.�.)



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