Tilman Baumgaertel on Tue, 16 Apr 2002 11:22:05 +0200 (CEST) |
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[rohrpost] Bibliotheken sind nur ein Gleichnis (FAZ von heute) |
http://www.faz.net/IN/INtemplates/faznet/default.asp?tpl=faz/content.asp&rub ={2D82590A-A70E-4F9C-BABB-B2161EE25365}&doc={2653491D-9073-42BB-B634-4AD7465 1E520} FAZ, 16. April 2002 Feuilleton heute Bibliotheken sind nur ein Gleichnis - Salomos grausame Weisheit Unser Kulturauftrag ist die Digitalisierung "Gebt ihr das lebende Kind, nur t�tet es nicht." Verzicht aus echter m�tterlicher Liebe und Sorge - jeden Leser der Bibel ergreift die Weisheit des K�nigs Salomo, der den Streit der beiden M�tter auf paradoxe Weise sich selbst entscheiden lie�. Denn h�chste Staatsklugheit dr�ckt sich bei ihm in der Drohung h�chsten Staatsversagens aus: in der Drohung, das strittige Kind mit dem Schwert zu zerteilen, den Streit buchst�blich gegenstandslos zu machen. Die Computerisierung des Lebens l��t uns sp�ren, wie sehr wir selbst noch archaischen Familienwerten verhaftet sind, statt uns an digitale Beziehungslosigkeit angepa�t zu haben. Beispielhaft f�r unsere inneren K�mpfe ist der 92. Deutsche Bibliothekartag, der vergangene Woche in Augsburg stattfand. Die Bibliothek geh�rt zu unseren ehrw�rdigsten Institutionen. Wer mit dem einen oder anderen Bibliothekar gesprochen hat, wei� die Vertreter dieser Institution zu sch�tzen: Sie zeichnen sich aus durch pers�nliche Integrit�t, Loyalit�t gegen�ber ihrer Institution, leidenschaftliche Liebe zum Beruf, Verantwortungsgef�hl gegen�ber der Gesellschaft. Diese Eigenschaften dr�ckten sich auch aus in den Herausforderungen, die in fast vierzig Themenkreisen und �ber sechzig Arbeitssitzungen zur Sprache kamen. Dazu geh�rten etwa die betriebswirtschaftliche Proze�optimierung, der Einsatz moderner Methoden f�r Leistungsmessung, die Ausbildung des Personals und sein effizientester Einsatz im Interesse der Nutzer und der steuerzahlenden �ffentlichkeit. Dazu geh�rte die Verantwortung der Bibliotheken als Vermittler von Informationskompetenz, als Anbieter mulimedialer Lehr- und Lernmittel sowie als Verleger elektronischer Publikationen. Im letztgenannten Bereich geht es darum, zu den kommerziellen Verlagen in bestimmten Bereichen in Konkurrenz zu treten, um eine Senkung der exorbitant steigenden Preise f�r den Bezug wissenschaftlicher Informationen zu bewirken und die damit verbundene "Bibliothekskrise" im Interesse der Wissenschaft zu mildern. Schlie�lich dr�ckt sich das hohe Ethos unserer deutschen Bibliothekare im Willen zu Selbstkritik und Ver�nderung aus, in der Bereitschaft, den "Spagat" zwischen "Kulturauftrag" und "Informationsmanagement", das Nebeneinander von Best�nden traditionellen, gedruckten Wissens und moderner, digitaler Informationsh�ppchen, die Probleme der sogenannten "hybriden Bibliothek" zu meistern. Wir k�nnen soviel Problembewu�tsein nur bewundern - und m�ssen den sich darin ausdr�ckenden Idealismus doch kritisieren. Die Bibliothekare sorgen sich, wie sie mit so vielen neuen Aufgaben fertig werden sollen, und rufen nach mehr Geld, um Zeitschriften und B�cher �berhaupt noch kaufen, die digitale Infrastruktur ausbauen und das Personal schulen zu k�nnen. Aber sie wollen das Sorgerecht f�r ein Kind, das im Begriff ist, erwachsen und selbst�ndig zu werden. Die Bibliotheken werden wie die echte Mutter in der Geschichte vom weisen K�nig Salomo lernen m�ssen, ihren Z�gling loszulassen, um ihn noch besitzen zu k�nnen. Die Technik selbst ist dabei nur eine von drei Triebkr�ften. M�glich ist es heute durch zahlreiche internetgest�tzte Informationsangebote, G�ter und Dienstleistungen in globalem Ma�stab zu vergleichen: Das betrifft alles, was irgendwie standardisierbar ist, und das ist sehr viel, etwa B�cher, Versicherungs- oder Bankprodukte, Maschinen und Zulieferteile, Rohstoffe und Handwerksleistungen am Bau. Der �ffentliche Sektor ist dem Vergleich bislang am wenigsten ausgesetzt. Er f�llt unter den Generalverdacht derjenigen, die den Konkurrenzdruck ertragen m�ssen. Lehrer beispielsweise gelten pauschal als "faul". Das ist stupid, liegt aber in der Logik der Sache. Politiker k�mmern sich nicht ums Gemeinwohl und sind korrupt - das ist ebenso stupid, aber der K�lner Kl�ngel zeigt die Notwendigkeit, Ausschreibungen f�r �ffentliche Projekte transparent zu machen: das Internet bietet daf�r alle M�glichkeiten. So auch die Bibliotheken. Effizienzmessung und Benchmarking treffen einen gesellschaftlichen Nerv. Aber solange �ffentliche Einrichtungen nicht in Konkurrenz zu privaten Anbietern treten, wirkt das nur, als lasse man der �ffentlichkeit lediglich die Wahl zwischen rotem und schwarzem Filz. Sogar die Politiker, die zweite Triebkraft, merken, da� sie den Leuten ihre minderwertige Auslegeware nicht unbegrenzt aufschwatzen k�nnen. Andere Staaten, L�nder, Kommunen leisten mehr. Es zeugt f�r ihr Verantwortungsgef�hl, wenn die Bibliothekare Kinderg�rten, Schulen und Hochschulen Angebote zur Verbesserung der "Informationskompetenz" machen. Aber das wirkt, als wollte der Lahme dem Blinden beispringen. Politiker werden an solchen Verzweiflungsakten ihren Handlungsbedarf erkennen, aber nicht glauben, da� ein solches Gespann ans Ziel gelangen kann. Die seit der Pisa-Vergleichsstudie von den B�rgern verst�rkt geforderte Bildung von "Informationskompetenz" geh�rt in den Verantwortungsbereich der Bildungsinstitutionen, nicht der Archive. Politiker werden die Autonomie der �ffentlichen Ausbildungsst�tten, gleichzeitig aber auch den Wettbewerb um die besten Methoden zu f�rdern haben: private Kinderg�rten, Schulen und Hochschulen. Technik treibt nicht nur Politik, sondern auch Wirtschaft an. Die zum Buch gebundene Einheit von Medium und Inhalt ist durch digitale Technik aufgel�st. Es gibt das �ffentliche Gut "Informationsinfrastruktur" und das private Gut "Information". F�r bestimmte Teile des Informationsmarktes werden Intermedi�re wie Buchh�ndler und Bibliotheken �berfl�ssig. Dies gilt vor allem f�r den Bereich naturwissenschaftlicher, medizinischer und technischer Literatur. Dieser Bereich ist teuer und ineffizient, weil zwei Funktionen miteinander vermischt sind. Zum einen geht es um die Versorgung mit Informationen dar�ber, was die Wissenschaft bereits geleistet hat und was nicht ein zweites Mal erarbeitet werden mu�. Zum anderen geht es darum zu wissen: Wer hat was geleistet, wer wird auf seinem Fachgebiet k�nftig Herausragendes leisten. Es geht um Vergangenheit und um karriererelevantes Prestige. Gemessen wird das daran, wie oft jemand in Zeitschriften mit hoher Reputation ver�ffentlicht und wie h�ufig er zitiert wird. Diese doppelte Nachfrage treibt die Preise f�r wissenschaftliche Zeitschriften. In diesem System gegenseitiger Beg�nstigung dienen die Bibliotheken nur noch als Parkpl�tze, auf denen Geldkoffer den Besitzer wechseln - wobei uns die Parkplatzw�chter weismachen wollen, die Koffer seien zu klein. Ein Teil der L�sung wird im Direktbezug einzelner Aufs�tze oder Informationen liegen, unter mehr oder weniger gro�er finanzieller Selbstbeteiligung der Wissenschaftler. Die Bibliothekare werden �berfl�ssig wie Versicherungsmakler, sobald die Kunden ihre Versicherungen per Internet direkt abschlie�en. Die strukturell bedingte Korruption jedoch wird erst beendet sein, wenn das System der Informationsversorgung vom System der Prestigemessung getrennt sein wird. Die Herausgeber und Gutachter der wissenschaftlichen Zeitschriften, au�erdem die �brigen Fachgelehrten und lesenden Wissensarbeiter sollten ihre Bewertungen von prestigeheischenden Beitr�gen deshalb direkt in eine zentrale nationale oder besser internationale Datenbank eingeben, deren Inhalt �ffentlich einsehbar ist und Auswertungen gestattet, beispielsweise wenn Stellen zu besetzen sind. Der Internetbuchh�ndler Amazon liefert mit seinen Leserbewertungen ein primitives Modell, das man beliebig verfeinern k�nnte. Und die Geisteswissenschaften? Bleiben sie nicht auf der Strecke, ebenso wie die Bibliotheken und ihr sogenannter "Kulturauftrag"? Am Beispiel der Bibliotheken zeigt sich vielmehr, da� wir die Digitalisierung der Gesellschaft, ihre Differenzierung nach funktionalen Gesichtspunkten selbst als unseren Kulturauftrag betrachten m�ssen. Einer k�nftigen Differenzierung in stark verschulte Lehramts- und "Bachelor"-Studieng�nge einerseits und wissenschaftliche Master- und Promotionsstudieng�nge andererseits entspr�che eine Einteilung in m�glichst virtualisierte Lehrstoffsammlungen und spezialisierte, um Archive oder Themenschwerpunkte herum organisierte Pr�senzbibliotheken. Ihren tiefer als bisher verstandenen Kulturauftrag f�nden Bibliotheken - pathetisch gesprochen - als Friedh�fe des Geistes, als Mausoleen identit�tstiftender Kulturdenkm�ler, mit der Wissenschaft als begleitendem Totenamt. Wer liegt nicht lieber auf dem P�re-Lachaise als auf dem Stadtfriedhof von Vechta? Das Internet k�nnte also bei der nationalen Reorganisation und Konzentration der geisteswissenschaftlichen Forschungsbibliotheken als B�rse dienen, in der Dauerleihgaben getauscht und zu zeitlich begrenzten Sammlungen zusammengef�hrt werden k�nnen. Die Bibliothekare m��ten jedoch auch hier ihre Fixierung auf stets wachsende Best�nde l�sen und die Differenz von unver�u�erlichem Eigentum und befristetem Besitz - der "Nutzung" - lernen. In der Bibel steht nicht, was mit der Mutter und ihrem Kind weiter geschah. Sicher ist nur, da� sie nicht heimgingen, um gemeinsam eine "hybride Bibliothek" oder andere Ungeheuer auszubr�ten, an die sogar der weise Wissenschaftsrat glaubt. CHRISTOPH ALBRECHT Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.04.2002, Nr. 88 / Seite 43 ------------------------------------------------------- rohrpost - deutschsprachige Liste fuer Medien- und Netzkultur Archiv: http://www.nettime.org/rohrpost Info: http://www.mikro.org/rohrpost Ent/Subskribieren: http://post.openoffice.de