Florian Cramer on Mon, 20 Jan 2003 14:55:04 +0100 (CET)


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Re: [rohrpost] Aus der NZZ


Am Sonntag, 19. Januar 2003 um 09:17:06 Uhr (+1100) schrieb geert
lovink:

> Klar, aber k�nnen wir auch �ber Mitschuld reden? Ab wann k�nnen bl�den
> Medienmacher f�r ihre Doofheit bestraft werden?

Geert, dann m��ten wir aber auch einmal �ber geplatzte Dotorg-Blasen
mit Parallelen zur Dotcom-Economy reden, und zwar vor allem �ber
rhizome.org.  Wie vielleicht nicht allen rohrpost-Lesern bekannt ist,
steckt rhizome in einer Finanzkrise und erhebt seit diesem Jahr eine
Mitgliedsgeb�hr f�r den Bezug seiner Mailinglisten und die Nutzung
seiner Netzkunst-Datenbank im World Wide Web. Die Geb�hr ist zwar gering
- $5 pro Jahr -, und allein durch einen Service wie die "Net Art News"
hinreichend gerechtfertigt. Nachdenklich aber macht die insgesamte
"cash burn rate" von Rhizome von zuletzt �ber $400.000 pro Jahr,
inkl. Jahresgeh�ltern von $47.260 und $36.692 (im Jahr 2000) f�r Mark
Tribe und Alex Galloway, die der Netzk�nstler m e t a recherchiert hat:

http://amsterdam.nettime.org/Lists-Archives/nettime-l-0301/msg00079.html

Problematisch erscheint mir, da� rhizome eine Non-Profit-Organisation
ist und davon lebt, da� K�nstler kostenlos zu den rhizome-Mailinglisten
und der Artbase beitragen, im Gegenzug jedoch nichts zur�ckbekommen
au�er der Pr�senz auf rhizome.org. Das f�r Netzkunst-Verh�ltnisse
enorm hohe Budget von rhizome flie�t fast vollst�ndig in die eigene
Verwaltung. Siehe dazu auch:

http://amsterdam.nettime.org/Lists-Archives/nettime-l-0301/msg00059.html

Das unterscheidet rhizome auch von anderen Netzkunst-Institutionen
wie z.B. der transmediale, die gewi� auch viel Geld f�r Geh�lter und
interne Organisation aufwenden, daf�r K�nstler aber nach Kr�ften mit
Einladungen, Vortragshonoraren und Preisgeldern subventionieren.

Auf Nettime hat Ted Byfield heute unter der Betreff-Zeile "burn rate"
die Dotcom-Vorgeschichte von rhizome erz�hlt. Da der Beitrag, w�hrend
ich dies hier schreibe, noch nicht im Web-Archiv der Mailingliste
erschienen ist, zitiere ich daraus einen l�ngeren Abschnitt:

> mark and a few others 'founded' rhizome soon after he moved from
> berlin to NYC, in the spring of '96. i'm not exactly sure what
> founding rhizome actually involved, other than running a mailing list
> or two.
>
> on those lists, there was quite a bit of kvetching about the lack of
> state support for the arts in the US, which led people to suggest
> some sort of one-for-all, all-for-one collectivization. out of that,
> through the machinations of mark and a few others, was borne a dotcom
> by the name of stockobjects, which set out to take these vague
> ramblings and turn them into a business. the 'model' was sumarized in
> a WiReD article thus:
>
>     Artists initially submit their work under either an exclusive or
>     nonexclusive agreement, and get no money until sale. The exclusive
>     model entitles the artist to 50 percent of the roy- alties when an
>     object is purchased, but the nonexclusive op- tion offers only 25
>     percent - which, at US$25 for a stock photo, could be negligible.
>
>     Users can sift through the site's library according to cri-
>     teria such as subject matter or rubrics like "Dreams" and
>     "Competition." For a $100 starting fee, subscribers could pay from
>     $25 for a simple image to $120 or higher for ani- mations and
>     applets. Non-subscribers pay double the price, but [COO Garnet]
>     Heraman is quick to note that all pricing is tentative until they
>     can "explore what pricing is pos- sible" after the launch.
>
> stockobjects got some funding; a WiReD article from sept 97 mentions
> $500K, but i remember hearing much higher figures (~$8M rings a bell,
> but i can't back that up). anyway, with the establishment of stock-
> objects, rhizome mutated from a mailing list into a full-fledged in-
> house *tax shelter*. that was when it began actually hiring people.
>
> dotcoms being what they were, stockobjects' finances began to fray,
> and through a messy process mark separated from stockobjects and, i
> think, took rhizome with him. various rhizomatics took to wagging
> their fingers and earnestly hectoring people about how 'it's rhizome
> dot *ORG* now, *NOT* rhizome dot *COM*...' as if people hadn't
> chuckled at the choice of '.com' to begin with.
>
> anyway, i suppose a lot has happened since then, but it's hard to
> imagine what the hell rhizome could possibly have done to justify
> burning through $307,000 in fiscal year 2000-2001 and, even more
> astonishingly, $444,000 in FY 2001-2002.

Hinzu kommt, da� rhizome auch in seiner redaktionellen Politik
seinem Namen nicht immer Ehre gemacht hat. So gingen m e t a's
obengenannten Postings �ber die rhizome-Finanzen gingen auch an
die rhizome-Mailingliste, erschienen aber zumindest nicht auf der
moderierten Version "rhizome-rare".

Ein handfester Skandal hingegen war rhizomes Umgang mit dem
Jury-Statement des Moskauer Softwarekunstfestivals "read_me 1.2", an
dem ich als Juror beteiligt war. Wir hatten der Arbeit "RSG Carnivore",
einem politk�nstlerisch verbr�mten 08/15-Ethernet Packet Sniffer in
Form eines simplen Perl-CGI-Wrappers um das Linux-Programm "tcpdump",
ein "honorary mention" gegeben, mit der zugegebenerma�en b�swilligen
Intention, sie im Jury-Statement kritisch auseinanderzunehmen. Diese
Kritik war umso n�tiger, als kurz darauf eine offenbar unkritische
oder technisch �berforderte ars electronica-Jury "RSG Carnivore" einen
Hauptpreis verlieh.  Hauptautor von "RSG Carnivore" ist rhizomes
Mitbetreiber Alex Galloway, und die Visualisierungs-"Plugins"
wurden haupts�chlich von New Yorker Netzk�nstlern aus dem engeren
rhizome-Umfeld geschrieben.  Olga Goriunova von read_me 1.2 schickte
unser Jury-Statement u.a. auch an rhizome. Dort entschied man sich,
es in den w�chentlichen (und von den meisten Rhizome-Mitgliedern
gelesenen) "rhizome digest" aufzunehmen, lie� aber die Jury-Texte
unterhalb aller "honorary mentions" weg. Weder wurden diese Weglassungen
gekennzeichnet, noch erschien der Text als Zitat oder Auszug mit
der redaktionellen Kennung von rhizome, sondern als zensierter Fake
von Olgas vermeintlicher Mail mit originalen "Date:", "From:" und
"Subject:"-Zeilen.

Ein nichtsahnender Leser erfuhr also, da� "RSG Carnivore" eine
ehrenwerte Erw�hnung eines Softwarekunst-Festivals bekommen hatte,
nichts jedoch �ber die Kritik der Jury. Dies war um so dreister,
als im selben rhizome digest vom 2.6.2002, und zwar direkt �ber dem
manipulierten read_me-Statement, ein Artikel "Hacktivism as High {Tech}
Art" von Marisa Olson erschien, in dem "RSG Carnivore" �ber zwei Abs�tze
hinweg positiv gew�rdigt wurde.

> Es gibt in der Dotcomrekonstruktionsdiskurse mehr und mehr Hinweise
> auf die Rolle der Presse die komplett vers�umt haben kritisch
> nachzufragen. Es gibt meines Wissens noch keiner solchen Klagen. Ein
> krassen Fall k�nnte komischerweise die open source Firma VA Linux sein
> der sein IPO im Dezember 1999 gro� freierte.

...und die mittlerweile "VA Software" hei�t und auf propriet�re
Softwareentwicklung umgesattelt hat, aber nach wie vor im Besitz
des "Open Source Developer Networks (OSDN)" in Gestalt der Websites
slashdot.org, sourceforge.net, freshmeat.net, newsforge.com und
linux.com ist, aber ihr B�rsenkapital auf geradezu spektakul�re Weise
verbrannt hat.

Das IPO von VA Linux, meines Wissens das erfolgreichste der
B�rsengeschichte mit Kursexplosion von 698% am Ausgabetag, war ein
extremer Fall von "stupid money" an den neuen M�rkten. Zum Zeitpunkt des
IPOs war VA Linux eine reine Supportfirma, die (anders als z.B. RedHat)
keine eigene Distribution oder sonstige Software entwickelte, sondern
Linux auf Intel-PC-Servern konfigurierte und verkaufte, zu einer Zeit,
als Linux noch nicht auf dem Radar von Gro�firmen wie IBM, HP und Dell
erschienen war und auf ihrer Server-Hardware nicht offiziell unterst�tzt
wurde. Die OSDN-Websites wurden erst sp�ter mit dem Aktienkapital
zugekauft. 

Da� eine gehobene Bastelbude wie VA Linux �berhaupt diesen B�rsenerfolg
erzielen konnte, lag daran, da� die Firma sich das NASDAQ-K�rzel "LNUX"
reservieren konnte. Unkundige Anleger dachten, das Betriebssystem (bzw.
die imagin�re Firma) Linux sei an die B�rse gegangen. Tats�chlich war
in der Presse vom Linux-IPO bzw. Linux-B�rsenkurs die Rede. Kurz vor
dem IPO waren die ersten Berichte �ber Linux in Mainstream-Medien
erschienen, inklusive einer Linus Torvalds-Titelstory in "Forbes". Die
Stories erz�hlten d�mmlich vom Anti-Bill Gates und finnischen
Wunderkind, das aus Frustration sein eigenes Betriebssystem geschrieben
h�tte und nun zum Herausforderer von Microsoft w�rde, unter
geflissentlicher Unterschlagung erstens der Tatsache, da� Linux nur
ein Kernel ist, nicht aber das ganze Betriebssystem, und zweitens der
hunderten oder tausenden freier Entwickler, die mehr als zwanzig Jahre
lang an dem Gesamtsystem gearbeitet hatten.


> Sowohl Linus Torwalds als auch Eric Raymond sind eng mit
> dieser Firma und die Pressewirbel um den IPO damals verbunden. 

Linus Torvalds ist immer so klug gewesen, nicht f�r Linux-Firmen zu
arbeiten. Er ist in die VA-Geschichte aber insofern verwickelt, als
"Linux" sein eingetragenes Warenzeichen ist und somit der Firmenname
"VA Linux", das B�rsenk�rzel "LNUX" und die Domain "linux.com" nur mit
seiner Duldung bzw. seinem Einverst�ndnis gef�hrt werden k�nnen.

Eric S. Raymond ist ein anderer Fall. Er bekam vor dem IPO einen
Ehrenposten im "Board of Directors" von VA Linux und schrieb am Tag
danach einen eitlen und peinlichen Text dar�ber, wie er sich als
frischgebackener Million�r f�hle. 

> Dokumentarfilm DotCon). Nur ein Monat sp�ter verunsichterten die
> M�rkten und der gro�en Sturz war dann im April 2000.

Sicher ist die Kultur- und Kriminalgeschichte der Dotcom-Seifenblase
eine der gro�en Erz�hlungen des 20. Jahrhunderts, vielleicht sogar der
ganzen Neuzeit, da anders als zuvor beim Eisenbahn- und �lboom auf den
B�rsen entmaterialisiertes, rein symbolisches Kapital gehandelt und aus
diesem symbolischen Kapital wiederum scheinbar endlos neues symbolisches
Kapital generiert wurde; bzw,, um es als Literaturwissenschaftler zu
formulieren, die Erz�hlungen des B�rsensystems erstmals selbstbez�glich
wurden, indem sie statt materieller Dinge gleichfalls Erz�hlungen
zu ihrem Gegenstand hatten.  Man k�nnte solch eine Analyse der
B�rsen�konomie verbinden mit einer Analyse des Aufkommens der
Konzeptkunst, postmoderner Schreibweisen in der Literatur, des
"linguistic turns" in den Kulturwissenschaften sowie dem Boom der
Computersoftware als Immaterialisierung von Arbeitsabl�ufen; zumal alle
diese Ph�nomene sowohl konzeptuell, als auch historisch miteinander
verwoben sind.

Auf der anderen Seite kann einem diese geschichtsphilosophische
Sichtweise den Blick auf die Gegenwart verstellen. Denn
die Ironie dieser Geschichte ist ja, da� die verbliebenen
Gro�-Dotcoms wie Amazon und Ebay jetzt profitabel geworden
sind und gerade im Weihnachtsgesch�ft Rekordums�tze gemacht
haben. (Siehe z.B. die heutige Heise-Newsticker-Meldung
<http://www.heise.de/newsticker/data/jk-20.01.03-000/>).  In
Deutschland geh�rt Ebay neben Aldi zu den gro�en Profiteuren des
Euro-Preisschocks. Und so sieht es so aus, als ob Jeff Bezos doch
recht gehabt h�tte und es in der Pionierphase der Internet-�konomie
tats�chlich darum ging, mit hohen Anlaufverlusten starke Marken
zu kreieren und sp�ter davon zu profitieren. Nur da� im Web die
Konzentration auf wenige weltweite Marken (Amazon, Ebay, Yahoo, Google)
noch viel extremer ist als in anderen M�rkten. Diese Konzentration
l��t sich ironischerweise gut mit einer alten Netzkultur-Vokabel
erkl�ren: Da� n�mlich Amazon, Ebay, Yahoo und Google als
"Kontextsysteme" (bzw. als Subnetze des World Wide Web) kritische Massen
innerhalb ihrer selbst generieren und dadurch Konkurrenz verhindern,
nicht anders als auf dem Markt der PC-Betriebssysteme.

-F

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