Inke Arns on Sun, 09 May 1999 15:49:43 +0200 |
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Syndicate: Schneider: »Balkanien« - Land ohne Grenzen, Freitag, 30 April 99 |
[unfortunately this is only in German, greetings, -i] from the German weekly Freitag, Nr. 18, 30. April 1999 http://www.freitag.de/1999/18/99181301.htm von Florian Schneider »Balkanien« - Land ohne Grenzen K�NSTLERNETZWERKE GEGEN DIE LOGIK DES KRIEGES Treffen in Budapest, der heimlichen Kulturhauptstadt Europas Die 19-Uhr-Maschine von München nach Budapest war hoffnungslos überbucht und transportierte vom Filmhochschulstudenten bis zu Hans Magnus Enzensberger einen Haufen bekannter Gesichter in die ungarische Hauptstadt: Die einen drehten einen �bungsfilm zum Krieg, die anderen machten sich auf den Weg zu einer Buchausstellung, die mit der »Kosovo-Krise« nun wirklich soviel zu tun hat wie ein Innenminister mit humanitärem Engagement. Dreharbeiten, Filmfestivals, Ausstellungen, Lesungen und Konferenzen - fast sieht es so aus, als sei Budapest im Moment die heimliche Kulturhauptstadt Europas. Kein runder Geburtstag, sondern das Wissen um die besondere Lage ist dafür verantwortlich. Budapest liegt mitten im Niemandsland zwischen dem, was eben noch kurzerhand Europa genannt wurde, und dem Landstrich, in dem seit fast einem Monat schon ein Luftkrieg tobt. Oben, auf der mittelalterlichen Burg im Stadtteil Buda, trafen sich am vergangenen Wochenende au�erdem drei Dutzend Menschen, die der Krieg auf eine spezielle Weise anging: Künstler und Medienaktivisten, Vertreter von Medienlaboren, Festivals und Kultureinrichtungen aus zehn europäischen Ländern. Seit drei Jahren haben sie sich in einem kleinem Netzwerk mit dem ein wenig selbstironischen Titel »Syndicate« zusammengeschlossen, weil die politischen, kulturellen und geografischen Grenzziehungen Europas für sie längst an Bedeutung eingebü�t haben. Eigentlich war das Treffen für Belgrad geplant, und der Slogan »Bringing the Syndicate home« brach selbst den Stiftungsmitarbeitern, die über die Höhe des Fahrtkostenzuschusses zu befinden hatten, das Herz. Der Krieg zwang nicht nur zur kurzfristigen Verlegung des Tagungsortes, sondern bestimmte auch die Tagesordnung einer Konferenz, die mit der Erörterung von Weltpolitik normalerweise nun wirklich nichts am Hut gehabt hätte. Doch statt Verschwörungstheorien oder intellektueller Selbstzerfleischung wahlweise entlang den Propagandalinien der Kriegsherren kam bei dem Treffen einiges heraus, das bei dieser Gelegenheit vielleicht nicht unbedingt zum ersten Mal zu hören war, unter den gegenwärtigen Verhältnissen jedoch zumindest neue Bedeutung hat: Am Ende stand die Ausrufung eines Staates, der den Namen »Balkanien« trägt. Au�erdem die Erörterung von Medienstrategien und ein Aktionsplan zur Evakuierung, Ausstellung und Rekonstruktion wichtiger Teile der »urbanen Kultur« Jugoslawiens, die im Moment eingekesselt und von allen Seiten beschossen wird. Die unabhängigen Medien, Künstlergruppen und alternative Netzwerke sitzen im Moment auf den Trümmern ihrer jahrelangen Arbeit und hartnäckigen Opposition zu Nationalismus, Isolation und Ethnifizierung. Und schlimmer noch: diejenigen, die die letzte Zeit über ein »anderes Jugoslawien« verkörpert haben und dies in einer wie auch immer gearteten Zeit nach dem Krieg noch am ehesten könnten, werden zusehends zwischen den Fronten zerrieben. Wachsende Repression im Landesinneren, und die Ignoranz eines kriegführenden Westens, dem inzwischen offenbar vor allem daran gelegen ist, seine Grenzen dicht zu machen, anstatt sie wenigstens für diejenigen zu öffnen, um derentwillen einst angeblich interveniert wurde. »Should I stay or should I go« hatten einige der Teilnehmerinnen des Treffens auf den Lippen, die aus der Republik Jugoslawien angereist waren. Im Gegensatz zu Männern zwischen 16 und 60 Jahren, die das Land nicht mehr verlassen dürfen und sich für die Generalmobilmachung bereithalten müssen, können Frauen die Grenze zwischen Jugoslawien und Ungarn bislang noch einigerma�en problemlos passieren. Vor den Toren der EU formiert sich derzeit das schlechten Gewissen Europas und dieses verläuft quer zu den ethnischen Zuschreibungen der Kriegsberichterstattung: Menschen, die gute Gründe hatten, ihre Arbeit stehen und liegen zu lassen, um ihren Wohnsitz so schnell wie möglich zu verlegen. Männer, denen die Einberufung zum Wehrdienst so zuwider ist wie die Vorstellung, ausgerechnet für den verha�ten Diktator das Leben lassen zu müssen. Menschen, die, sobald sie sich selbst in Sicherheit gebracht haben, verzehrt werden von der Sorge um die Familienangehörigen. Auf dem Treffen in Budapest wurde nun ein gemeinsames Vorgehen von Medienaktivisten, Künstlern, kulturellen Institutionen, Festivals in ganz Europa beschlossen. Schon am 30. März hatten Vertreter von europäischen Kulturzentren und Medienlabors an die Regierungen der NATO-Staaten appelliert, doch wenigstens die politische Verantwortung für die Folgen der Kriegshandlungen zu übernehmen: »Open the Borders!« hie� die Stellungnahme und was, damals noch als Befürchtung im Raum stand, ist heute zynische Wirklichkeit. Jeden Tag, den der Krieg andauert, wird diese Forderung aber drängender. Es ist nicht mehr die Zeit, über Politiker und Militärs zu fachsimpeln, die zu vermeintlichen Gutmenschen konvertierten, oder in Ratlosigkeit über diese plötzliche Wandlung zu verharren. Es ist Zeit, die Grenzen Europas zu öffnen. Zum einen aus humanitären Gründen: um allen Menschen, wovor auch immer sie fliehen und wohin auch immer sie wollen, ein Entkommen zu ermöglichen. Zum zweiten aus politischen Gründen: um die Logik des Krieges zu durchbrechen und allen, die sich weigern, ihr Leben für Milosevic´ aufs Spiel zu setzen, den vollen politischen Schutz zu gewähren, der ihnen zusteht. Zum dritten aus pragmatischen Gründen: Wenn es irgendeine Chance gibt, den aktuellen und alle noch drohenden Konflikte vor den Toren der EU-Länder zu lösen, dann kann und darf diese nur in einer gesamteuropäischen Perspektive liegen und anstelle von Luftkriegen in der Abschaffung der Grenzen bestehen. Einen ersten, radikal pragmatischen Schritt in diese Richtung soll das »European Cultural Exchange (ECX)« Programm bedeuten, das auf der Syndicate-Konferenz gestartet wurde. Je notwendiger es ist, umso schwieriger wird es gemacht, Grenzen zu überschreiten. Gerade in solchen Zeiten soll der Austausch zwischen kulturellen Institutionen intensiviert werden, sollen Menschen, die sich in mittelbarer oder unmittelbarer Gefahr befinden, die Möglichkeit erhalten, Stipendien und Arbeitsaufenthalte anzunehmen, um mittels Einladungen zu Vorträgen und Veranstaltungen ihre reguläre Arbeit wenn nicht fortzusetzen, so zumindest präsentieren oder rekonstruieren zu können. Was zunächst wie eine kleine, verzweifelte Geste aussehen mag, kann eine gewaltige politische Brisanz offenbaren, weil es einen neuralgischen Punkt in der gesamten politischen Rhetorik berührt. In nur wenigen Tagen haben sich diesem Programm zahlreiche Institutionen und einige der wichtigsten Einrichtungen für neue Medienkultur angeschlossen. Jetzt stellt sich unter anderem die Frage, ob gerade das Auswärtige Amt, dem die deutschen Auslandsvertretungen unterstehen, die schlie�lich für die Visaerteilung zu kulturellen Zwecken allein zuständig sind, die Abschottungspolitik der Innenminister in den kulturellen Bereich hinein verlängert oder soviel Weitsicht offenbart, über den Tag und die absurde Begrenztheit der militärischen Logik hinauszudenken. Da� Künstler und Kulturschaffende, deren Arbeit fast notwendigerweise quer zur Politik der ethnischen oder nationalstaatlichen Kategorien verläuft, dazu am ehesten in der Lage sind, ist längst kein Klischee mehr. Und durch die Nutzung neuer Technologien wie Internet wird diese Entwicklung nicht nur materiell ermöglicht, sondern weiter zugespitzt. Während auf den Homepages der Regierungen und der Massenmedien noch der Infowar tobt, kristallisieren sich in internationalen Communities wie der Mailingliste von Syndicate bereits Formen von Kooperation und Translokalität heraus, deren Fundament gegenseitiger Respekt ist und die auf ein anderes Europa verweisen, das so etwas wie das Gegenmodell zum Club der Schengenstaaten sein dürfte und eben nicht durch seine inneren oder äu�eren Grenzen abgesteckt sein wird. »Period after«, ein Projekt, das in Kürze bei »Public Netbase« in Wien anläuft, war auch der Titel der Arbeitsgruppe, die in politischer Unbefangenheit schon einmal dem Ende des Krieges vorausgreifen sollte, und hier entstand der Vorschlag, »Balkanien« auszurufen. Sicherlich nicht aus pazifistischer Naivität, sondern aus der Erfahrung eines in Tausende von Facetten zerfallenden Blickes und aus einer Perspektive, die von der binären Logik der Propaganda in ein Terrain der Spiegelung und Brechung desertiert, und das von Slavoj Zizek konstatierte »Ende der neuen Weltordnung« aufnimmt und aus der Zukunft belächelt. i n k e . a r n s __________________________ b e r l i n ___ 49.(0)30.3136678 | [email protected] | http://www.v2.nl/~arns/ mikro: http://www.mikro.org | Syndicate Network: http://www.v2.nl/east/ ------Syndicate mailinglist-------------------- Syndicate network for media culture and media art information and archive: http://www.v2.nl/syndicate/ to unsubscribe, write to <[email protected]> in the body of the msg: unsubscribe [email protected]